Soziologische Kommunikationstheorien. Rainer Schützeichel
auf das Besondere und der Induktion als dem logischen Schluss vom Besonderen auf das Allgemeine, auf dem Gebiete des hermeneutischen Verstehens eben nicht anwendbar. Verstehen ist weder Induktion noch Deduktion.
Die zweite Variante des hermeneutischen Zirkels hebt darauf ab, dass jedes Verständnis eines Textes von einem Vorverständnis abhängt. Jede Interpretation ordnet einen Text in ein Vorverständnis des Textes ein. Passt es, so müssen weder Vorverständnis noch Textverständnis revidiert werden. Widerspricht die Interpretation hingegen gewissen Erwartungen, so ist der Interpret gehalten, sein Vorverständnis oder sein Textverständnis zu revidieren.
Die Hermeneutik versteht sich nicht als Kommunikationstheorie. Weshalb haben wir sie als eine der maßgeblichen Referenztheorien einer jeden soziologischen Kommunikationstheorie angeführt? Nun, alle diese Kommunikationstheorien sehen eine Position des Interpreten vor, ob als Empfänger oder Rezipient, als ›Verstehensakt‹ oder ›Schema‹. Kommunikationstheorien müssen also darüber Auskunft geben können, wie ›Verstehen‹ verstanden werden kann, und in all den Positionen, die wir behandeln werden, wird implizit oder explizit der hermeneutische Zirkel in der einen oder anderen Variante eine maßgebliche Rolle spielen. Aber sicherlich gilt auch: Kommunikationstheorien können sich nicht auf hermeneutische Theorien reduzieren, Kommunikation erschöpft sich nicht im Verstehen.
1.11 Sprachsoziologie und Soziolinguistik
Zwischen der Sprachsoziologie und der Soziolinguistik lässt sich kaum differenzieren, zu eng sind beide Subdisziplinen miteinander verwoben (vgl. Dittmar 1980, Grimshaw 1987, Hymes 1974 u.1979, Murray 1998). Der zentrale Untersuchungsgegenstand der Linguistik ist die Sprache als ein abstraktes System, ihre grundlegende Untersuchungseinheit ist der Satz, vornehmlich der Aussagesatz. Der Gegenstand der Soziolinguistik geht über diese Ebene hinaus. Ihr Untersuchungsgegenstand sind nicht einfache Sätze, sondern Satzfolgen und Aussagesequenzen in Gesprächen und Konversationen. Je nach wissenschaftlicher Ausrichtung spielen auch weitere soziale Kontexte des Sprechens eine große Rolle. Das Sprechen wird in seinen Wechselbeziehungen zu bestimmten sozialen Positionen oder sozioökonomischen Kategorien wie Klassen, Geschlecht, Generationen oder Ethnien bestimmt. Wie macht sich zum Beispiel die Zugehörigkeit von Menschen zu unterschiedlichen sozialen Klassen oder ethnischen Gruppen in deren sprachlichen Performanzen und Kompetenzen bemerkbar und, vice versa, wie wirken sich diese unterschiedlichen Performanzen und Kompetenzen auf die Reproduktion gesellschaftlicher Differenzierungen aus? Besonders bekannt sind die Arbeiten von Basil Bernstein (vgl. Bernstein 1972) zu den klassenabhängigen Sprachcodes oder von William Labov (vgl. Labov 1982) zu den Sprachstilen unterschiedlicher ethnischer Gruppen. Werden solche Variablen wie sprachliches Verhalten einerseits, soziale Kategorien andererseits aufeinander bezogen, so kann man von einem variablensoziologischen Ansatz in der Soziolinguistik sprechen – er stellt soziale Strukturen und sprachliche Performanzen oder Kompetenzen als unabhängige und abhängige Variable (manchmal auch in umgekehrten Rollen) in ein Verhältnis. Davon ist der interpretative Ansatz zu unterscheiden, dem insbesondere Dell Hymes (vgl. Hymes 1979) Untersuchungen zu einer ›Ethnografie der Kommunikation‹ bzw. einer Ethnografie des Sprechens und John J. Gumperz (vgl. Gumperz 1982a) interaktionale Soziolinguistik zuzuordnen sind. Diesen geht es nicht um Relationen und Korrelationen zwischen sozialen Strukturen und sprachlichem Verhalten, sondern sie fassen die soziale Welt selbst als eine kommunikative, sprachliche Welt auf. Die soziale Wirklichkeit ist keine außersprachliche, und die Sprache selbst ist keine asoziale. Sie untersuchen, wie durch kommunikatives Handeln soziale Strukturen produziert und reproduziert werden – und vice versa. Einen entsprechenden Gestaltwechsel vollzieht auch die Sprachsoziologie im engeren Sinne von einem älteren, kulturalistisch geprägten Ansatz (vgl. Weisgerber 1931), der Sprache als kulturelle Objektivation auffasst, über einen von der Soziologie von Talcott Parsons beeinflussten Ansatz (vgl. Fishman 1972), der das Verhältnis von Sprache einerseits, Handeln und Verhalten andererseits zum Forschungsgegenstand hat, zu solchen Ansätzen, die Sprechen als ein soziales Handeln konzipieren. Die verschiedenen soziolinguistischen bzw. sprachsoziologischen Ansätze reichen also von kompetenztheoretisch orientierten Ansätzen wie etwa demjenigen von Labov, die von der kommunikativen Bedeutung sprachlicher Merkmale abstrahieren und Sprachäußerungen mit sozialen Merkmalen der Sprecher korrelieren bis hin zu interaktionistischen Positionen, die in der Sprache ein Mittel zur Herstellung sozialer Ordnung erblicken und das Herstellen dieser Ordnung im Medium der Sprache und des Sprechens aufzeigen wollen (vgl. Schwitalla 1992). Auf den folgenden Seiten stellen wir diese Ansätze kurz im Einzelnen vor:
Soziosemantische Ansätze werden durch die berühmten Arbeiten von Basil Bernstein repräsentiert. Bernstein unterscheidet zwei Weisen des Sprachverhaltens, ein kontextabhängiges, partikularistisches, in seinen Möglichkeiten restringiertes sprachliches Verhalten, und ein universalistisches, elaboriertes. Diese werden in Beziehung zu einer dualistisch aufgefassten Sozialstruktur gesetzt, die sich in eine Arbeiter- und eine Mittelschicht aufgliedert. Bernstein formuliert kausale Hypothesen über den Zusammenhang beider Faktoren. Dabei greift er auf den Begriff des Codes zurück, der in etwa der ›langue‹ im Sinne Saussures entspricht. Neben einem allgemeinen Code einer Nationalsprache gibt es verschiedene Sub- oder Sprechercodes, die diesen allgemeinen Code verwenden. Die Differenzen zwischen den verschiedenen Sprechercodes sind darauf zurückzuführen, dass die Individuen bzw. Gruppen vornehmlich in Prozessen der primären Sozialisation unterschiedliche Selektionen aus dem allgemeinen Code treffen. Bernstein stellt in seinen Untersuchungen die Codes der Arbeiter- und der bürgerlichen Mittelschicht gegenüber. Die Mitglieder der Arbeiterschicht verfügen vornehmlich nur über einen restringierten Code, die Mitglieder der Mittelschicht hingegen vornehmlich über einen elaborierten Code. Der restringierte Code wird im Vergleich zu dem elaborierten Code als defizitär aufgefasst. Ein früherer Aufsatz (vgl. Bernstein 1961) stellt folgende Eigenschaften des elaborierten und des restringierten Codes heraus:
Der elaborierte Code ist z. B. gekennzeichnet durch folgende Eigenschaften:
Das, was gesagt wird, wird durch die Syntax und Grammatik genau reguliert.
Häufiger Gebrauch von Präpositionen.
Häufiger Gebrauch des Personalpronomems der 1. Person Singular.
Unterschiedliche Auswahl aus einer Reihe von Adjektiven und Adverbien.
Grammatisch komplexe Satzkonstruktionen, besonders durch die Verwendung von Konjunktionen und Nebensätzen.
Der restringierte Code hingegen weist folgende Merkmale auf:
Kurze, grammatisch einfache Sätze, die häufig unvollendet bleiben.
Einfacher Gebrauch von Konjunktionen.
Geringer Gebrauch von untergeordneten Sätzen.
Starrer und begrenzter Gebrauch von Adjektiven und Adverbien.
Dominanz impliziter Bedeutungen.
Untersuchungen in der Tradition der korrelativen Soziolinguistik stellen bestimmte soziale Faktoren mit bestimmten sprachlichen Verhaltensmustern in Beziehung. Für diese Tradition stehen in erster Linie die Arbeiten von William Labov (vgl. Labov 1980a, 1980b u. 1982). Labov stellt statistische Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen den Sprachstilen einerseits, sozialen, askriptiven Merkmalen wie der Zugehörigkeit zu ethnischen Gruppen, Alterskohorten, Geschlechts- und Schichtzugehörigkeiten andererseits an, um anhand von so genannten Variablenregeln die Soziolekte zu identifizieren, mithilfe derer sich Sprecher in spezifischen Situationen miteinander verständigen. Im Unterschied zu Bernstein vertritt Labov nicht die Auffassung, dass die unterschiedlichen Soziolekte auf unterschiedliche kognitive Vermögen schließen lassen. Er stellt der Defizithypothese Bernsteins die Differenzhypothese entgegen. Die korrelative Soziolinguistik ist nicht an der kommunikativen Bedeutung von sprachlichen Elementen interessiert, sondern an den differenten Sprachstilen von Sprechern unterschiedlicher Sprachvarianten.
Die Sprachsoziologie untersucht, welche sozialen Gruppen welche Sprachvarianten in welchen sozialen Situationen sprechen, wie diese Sprachvarianten in und zwischen den Gruppen bewertet werden und wie der soziale Wandel sich im sprachlichen Wandel reflektiert. Neben der klassischen, strukturfunktionalistisch geprägten Forschungsrichtung, wie sie z. B. von Fishman (vgl. Fishman