Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
was wir heute gewohnt sind – ein letztes
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Moment, das hier vorab schon benannt werden soll. Für uns ist die Gesellschaft ein Gefüge, das überall und immer in Bewegung ist, das nicht nur in diesem oder jenem Teilbereich, sondern als ganzes einem Prozeß der Entwicklung unterliegt, den wir bald als Fortschritt und bald als Modernisierung oder Beschleunigung zu fassen suchen. Ja der Begriff der Entwicklung bestimmt unseren Blick auf die gesamte Welt, einschließlich der Natur und des Kosmos, sind wir es doch gewohnt, von einer Erdgeschichte, von einer Evolution des Lebens, der Arten und der Spezies Mensch und selbst von einer Geschichte des Kosmos zu sprechen.
In alledem sahen die Menschen der frühen Neuzeit statische Gebilde, in der Gesellschaft nicht weniger als im Menschen, in der Natur und im Kosmos; denn sie alle galten ihnen als in einem einmaligen Akt von Gott geschaffen, und das heißt eben, als unveränderlich, als von innen heraus, aus sich selbst in ihren Grundzügen nicht zu verändern. Wo wir in Kategorien des Werdens denken, da dachten sie in Kategorien des Seins und der Dauer. Natürlich bemerkten auch sie, wieviel in der Gesellschaft ihrer Zeit schon an Bewegung war, aber wie Shakespeares Hamlet konnten sie darauf immer nur wieder mit dem Satz „Die Welt ist aus den Fugen“ reagieren, konnten und wollten sie gegen Tradition und Konvention gerichtete Umtriebe nur als einen Aufstand gegen die göttliche Weltordnung verstehen, der einzig durch die demütige Rückkehr zur alten Ordnung wieder aus der Welt zu schaffen wäre.
Erste Schritte in die Moderne
Die Literatur der frühen Neuzeit führt uns in eine fremde Welt, und sie erschließt sich nur dem, der sich ihrer Fremdheit stellt; der bereit ist, in der Auseinandersetzung mit ihr liebgewonnene, für selbstverständlich gehaltene Vorstellungen auf die Probe der Alterität zu stellen, und der dazu auch fähig ist; der nämlich jenes Einfühlungsvermögen und jene Phantasie mitbringt, ohne die man sich nicht in Menschen hineinzudenken vermag, die einer anderen Lebens- und Vorstellungswelt angehören als man selbst. So fremd uns die Welt der frühen Neuzeit aber auch immer scheinen mag – sie ist zugleich der Raum, in dem die ersten entschiedenen Schritte in Richtung Moderne getan worden sind.12 Insofern läßt sich an ihrer Literatur schon manches von
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dem, was die moderne Welt als die Welt kennzeichnet, der wir uns zugehörig fühlen, unter seinen Entstehungsbedingungen studieren. Sie hat also auch unseren Identitätsdiskursen einiges zu bieten. Die meisten dieser in die Moderne führenden Entwicklungen verdanken sich aber den beiden großen kulturellen Bewegungen des 16. Jahrhunderts: dem Humanismus und der Reformation.
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1 Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern 1968.
2 Eberhard Mannack: Barock in der Moderne. Frankfurt 1991.
3 Jakob u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. 33 Bde. 1854 –1971. ND München 1984.
4 Mit dieser Auffassung hat zuletzt noch einmal Ernst gemacht: Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. München 2003.
5 Günther Erken: Die Rezeption Shakespeares in Literatur und Kultur (Deutschland). In: Shakespeare-Handbuch. Hrsg. v. Ina Schabert. 5. Aufl. Stuttgart 2009, S. 627 –651.
6 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 6. Aufl. München 2007.
7 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. München 1989. – Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. München 1991. – Wissenschaftsgeschichte der Germanistik im 19. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Fohrmann u. Wilhelm Voßkamp. Stuttgart Weimar 1994. – Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994.
8 Germanistik und Komparatistik. Hrsg. v. Hendrik Birus. Stuttgart Weimar 1995.
9 Eberhard Lämmert u. a.: Germanistik – eine deutsche Wissenschaft. Frankfurt 1967.
10 (Post-)Kolonialismus und Deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Kulturtheorie. Hrsg. v. Axel Dunker. Bielefeld 2005.
11 Friedrich Schiller: Die Braut von Messina. In: Schiller: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Gerhard Fricke u. Herbert G. Göpfert. Bd. 2. 5. Aufl. München 1974, S. 813 –912, hier S. 912.
12 Frühe Neuzeit – frühe Moderne? Hrsg. v. Rudolf Vierhaus. Göttingen 1992.
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