Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
ihre Literatur. Man begegnet ihm in ihr auf Schritt und Tritt; man findet ihn keineswegs nur im Märtyrerdrama, jener Untergattung des barocken Trauerspiels, die bereits mit ihrem Namen auf den Märtyrertod verweist. Immer wieder geht es um die Haltung der Constantia, um jene Beständigkeit, jenes Einstehen für eine Wahrheit und Tugend, wie die Religion sie lehrt, das auch zur letzten Konsequenz bereit ist. Der Opfertod ist der eminente Fall, an dem die Grundfragen des menschlichen Daseins erkundet werden. In ihm will man ein Menschentum sich bezeugen sehen, dem die unsichtbare innere Welt, die Welt der Seele und des Geistes, mehr bedeutet als die handfeste äußere Welt, mehr als das schnöde Leben und das irdische Glück, und an diesem Zeugnis ist alles gelegen.
Geben wir es ruhig zu: das ist uns fremd. Schon mit dem Begriff des Geistes haben wir heute unsere Schwierigkeiten. Viele unserer Zeitgenossen scheuen sich, ihn überhaupt noch in den Mund zu nehmen; er ist ihnen irgendwie peinlich, wird von ihnen als abgehoben und verblasen empfunden. Selbst in den Geisteswissenschaften wollen manche vom Geist nichts mehr wissen und sprechen statt dessen lieber von Mentalitäten und Diskursen. Und erst recht haben wir mit der Vorstellung vom Opfertod unsere Mühe. Wie soll man aber auch Verständnis für literarische Figuren entwickeln, die für ihre Überzeugungen mit ihrem Leben einstehen, wenn man von nichts so sehr überzeugt ist wie davon, daß sich Überzeugungen ändern können, daß was noch heute eine Wahrheit heißt sich morgen schon als Unwahrheit entpuppt haben kann und was sich in der einen Situation als Tugend bewährt in einer anderen womöglich verheerende Folgen zeitigt! Und solcher Relativismus, solche Situationsethik bestimmen im modernen Europa ja weithin das Denken und Handeln der Menschen.
Wir halten es demgemäß lieber mit Bertolt Brecht, der in der Gegenwendung gegen ein bekanntes Schillerwort, in dem sich noch einmal die enge Verbindung der Tragödie mit der Idee des Opfertods bezeugt,
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gegen die Verse „Das Leben ist der Güter höchstes nicht, / Der Übel größtes aber ist die Schuld“,11 die Auffassung vertreten hat, das Leben sei sehr wohl der Güter höchstes und der Übel größtes sei der Tod; der den Verstand eines jeden angezweifelt hat, der bereit wäre, für seine Ideale einen Heldentod zu riskieren, und statt eines solchen Idealismus die Sympathie mit dem Überlebenskünstler kultiviert hat, mit Menschen vom Schlage eines Schwejk, die sich listig an allen Zumutungen der Gesellschaft vorbeimogeln und da, wo sie um ihr Leben fürchten müssen, auch Lüge, Betrug und Verrat nicht scheuen.
Keuschheit
Eine noch größere Herausforderung als der Gedanke des Märtyrertods ist für uns womöglich die Art und Weise, wie in traditionalen Gesellschaften die Beziehungen zwischen den Geschlechtern und das Sexualleben an die Kandare genommen werden. In einigen Ländern des Vorderen Orients dürfen sich Frauen nur in einer Gewandung in der Öffentlichkeit zeigen, durch die ihre Geschlechtsmerkmale so weit wie möglich vor dem männlichen Blick verborgen werden. Wenn sie alleine unterwegs sind, sollen sie kein Wort mit einem fremden Mann wechseln. Die männlichen Mitglieder einer Familie sind gehalten, darüber zu wachen, daß die weiblichen Verwandten keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben, und der Ehebruch einer Frau wird von der „Scharia“, dem islamischen Recht, mit der Todesstrafe bedroht. Dafür fehlt einem modernen Mitteleuropäer jedes Verständnis, ja alles in ihm sträubt sich gegen die Zumutung, sich in solche Praktiken hineinzudenken. Denn hier ist das Herzstück seines Individualismus berührt: die Vorstellung von der Selbstverwirklichung in der Liebe, vorsichtiger gesprochen: in der Gestaltung der Partnerbeziehungen und des Sexuallebens. Da hat dem Einzelnen nach allgemeiner Auffassung niemand reinzureden, weder die Religion, noch die Gesellschaft, noch die Familie; auch da soll ein jeder „nach seiner Façon selig werden“ können.
Aber auch hierin war die europäische Welt der frühen Neuzeit noch weit von den modernen Verhältnissen entfernt. Die Keuschheit galt
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als eine höchste Tugend, zumal bei der Frau, und wenn man von dem Gegenteil von Tugend, vom Laster sprach – und wie wir noch sehen werden, war seinerzeit überall und immer von Tugend und Laster die Rede, auch und gerade in der Literatur – dann dachte man dabei in erster Linie an das Ausleben „fleischlicher Gelüste“. Daß man der Keuschheit einen so hohen Stellenwert zuerkannte, hatte den gleichen Grund wie die Hochschätzung des Opfertods: es ging darum, die innere Welt gegenüber der äußeren Welt stark zu machen. Wer enthaltsam lebte, wer sich zumindest in die Domestizierung der Sexualität durch das Institut der Ehe zu schicken wußte, der stellte damit unter Beweis, daß der Mensch in der Lage war, sich mit seiner Seele und seinem Geist über die äußeren Bedingungen seiner Existenz zu erheben, wie sie in seiner Leiblichkeit und seiner Triebnatur gründen, daß er fähig war, sich der Verstrickung in die irdischen Dinge zu entreißen, und darauf kam es an.
Es hilft alles nichts – wer mit der Literatur der frühen Neuzeit ins Gespräch kommen will, der muß auch einen Zugang zu dem Gedanken der Keuschheit finden; der darf sich nicht mit der Perspektive eines Zeitgenossen begnügen, für den die Verhältnisse in den permissiven Gesellschaften des modernen Europa das Maß aller Dinge sind und der in ihm nicht mehr als einen Ausdruck heilloser Zurückgebliebenheit zu sehen vermag; der muß zumindest versuchen, ihn als eine Vorstellung ernstzunehmen, die für andere Menschen von Bedeutung war und ist, für Menschen, die wie jeder Mensch einen Anspruch auf unseren Respekt haben. Denn die frühneuzeitliche Literatur konfrontiert uns immer wieder mit Geschichten, in denen das Motiv der Keuschheit eine entscheidende Rolle spielt, ja man begegnet ihm selbst noch in vielen Werken des 18. und 19. Jahrhunderts an zentraler Stelle; man denke nur an Lessings „Emilia Galotti“ (1772) und Hebbels „Maria Magdalena“ (1844). Immer wieder geht es darum, die „Ehre“ einer Frau und damit zugleich die „Ehre“ ihrer Familie zu schützen, immer wieder greifen die beteiligten Männer – Väter, Brüder, abgewiesene und willkommene, treue und untreue Liebhaber – für diese „Ehre“ zur Waffe, riskieren sie für sie ihr Leben, und oft genug führt dies zu einem Ergebnis, das wir heute einen „Ehrenmord“ nennen würden.
Patriarchalische Verhältnisse
Der Mann als Beschützer der Frau – auch damit haben wir heute unsere Probleme. In traditionalen Gesellschaften wie denen der frühen
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Neuzeit herrscht das Patriarchat. Das Oberhaupt der Familie, der Hausvater, ist der Vormund seiner Frau und seiner Kinder, auch der erwachsenen, und hat ebensowohl die Pflicht, für sie zu sorgen, wie das Recht, über sie zu bestimmen. Und nicht nur die Familie – die gesamte Gesellschaft ist patriarchalisch organisiert. Es handelt sich nämlich um eine Ständegesellschaft, also um eine Gesellschaft, die hierarchisch in Stände gegliedert ist, die jeweils durch unterschiedliche Rechte und Pflichten definiert sind und denen der Einzelne durch Geburt angehört. Der Bau der Gesellschaft beruht hier also auf dem Gedanken der Ungleichheit der Menschen, während er heute in unseren Breiten wesentlich durch die Forderung der Gleichheit vor dem Gesetz bestimmt ist.
An der Spitze der Ständepyramide steht der Fürst als der große Übervater der Gesellschaft. Von ihm aus geht es über die verschiedenen Stände des hohen und niederen Adels und der bürgerlichen und bäuerlichen Schichten hinab bis zu den Tagelöhnern und Bettlern. Die fürstliche Spitze ist von einem Personenkult umgeben, der keine Grenzen zu kennen scheint und an dessen Ausgestaltung sich auch die Literatur mit aller Selbstverständlichkeit beteiligt. Wenn es einem modernen Leser bei der Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Texten schon schwerfällt, die egalitären Impulse im Zaum zu halten, an die er in unserer Gesellschaft gewöhnt ist, so bringt es ihn vollends in Verlegenheit, wenn er auch noch für solche Nähe zur Macht Verständnis aufbringen soll. Die moderne Literatur lebt ja weithin von einem kritischen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse und hält von daher Distanz zu den Mächtigen. Das war in der frühen Neuzeit anders; da banden sich die Dichter nur allzu gerne an die Höfe der Fürsten, und sie standen nicht an, die gesellschaftlichen Verhältnisse auf eine „affirmative“, bestätigende Weise zu würdigen.
Gottgegebene Ordnung vs. Entwicklung
Und das taten sie nicht nur, indem sie die Fürsten mit Lob überhäuften und dem kulturellen Leben an den Fürstenhöfen