Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 1 - Gottfried Willems


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Kunst der Renaissance

      Der böse Verdacht verfliegt jedoch mit einem Schlag, sobald man über den Tellerrand der deutschen Literatur hinaussieht und die Literatur anderer europäischer Nationen mit ins Auge faßt, und er löst sich vollends in nichts auf, wenn man auch an andere Künste denkt, etwa an die Bildende Kunst. Von allem, was aus fernen Zeiten auf die heutige Menschheit gekommen ist, ist wohl nur wenig in der Kultur der Gegenwart so präsent wie die Kunst der Renaissance; das gilt selbst für die populäre Kultur. Von den italienischen Künstlern Leonardo da Vinci, Michelangelo und Raffael und von dem deutschen Albrecht Dürer hat jeder halbwegs gebildete Zeitgenosse schon einmal etwas gehört. Werke wie die „Mona Lisa“ und das „Abendmahl“ von Leonardo, der „David“ und die Fresken der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo, die „Sixtinische Madonna“ von Raffael, die „Betenden Hände“, der „Hase“ und die „Apokalyptischen Reiter“ von Dürer haben einen so hohen Wiedererkennungswert, daß sogar die Werbung von ihnen Gebrauch macht. Kaum weniger bekannt sind einige Künstler des Barock wie die Niederländer Rembrandt und Rubens.

      Bedeutende Bauwerke der Renaissance wie der Petersdom in Rom und solche des Barock wie das Königsschloß in Versailles sind beliebte Touristenziele und werden jedes Jahr von Hunderttausenden besucht. Wenn ein Museum eine Ausstellung der Werke von Mantegna oder Giorgione, Tizian oder Caravaggio zustande bringt, wird es von einem begeisterten Publikum überlaufen. Niemand, der Kunstgeschichte

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      studiert oder sich überhaupt für Kunst interessiert, kommt an der frühen Neuzeit vorbei; die Vertrautheit mit ihrer Kunst ist die Basis für alles andere. An der Kultur der frühen Neuzeit, an dem, was sie den Menschen an geistigem Rüstzeug mitgab und an kreativen Möglichkeiten eröffnete, kann es also nicht liegen, wenn die deutsche Literatur jener Jahre im kulturellen Gedächtnis nur noch ein Schattendasein fristet.

      Die frühneuzeitliche Literatur anderer Nationen

      Dieser Befund bestätigt sich bei einem Blick auf die Literatur anderer europäischer Nationen, etwa auf die der Italiener, Spanier und Franzosen, der Engländer und Niederländer. Was hier jeweils für die klassische Phase der Literaturgeschichte, für die „Blütezeit“, das „Goldene Zeitalter“ der Nationalliteratur gehalten wird, ist nämlich durch die Bank bereits in der frühen Neuzeit angesiedelt, und man kann nicht erkennen, daß das dem literarische Leben zum Nachteil gereicht hätte – im Gegenteil: für jede dieser Literaturen ist das Gespräch mit den großen Autoren der frühen Neuzeit bis heute eine Quelle ihres spezifischen Reichtums.

      Bei den Italienern läßt man die „Blütezeit“ mit Dante (1265 –1321), Petrarca (1304 –1374) und Boccaccio (1313 –1375) sogar schon im Spätmittelalter beginnen, um sie in der frühen Neuzeit mit Ariost (1474 –1533) und Tasso (1544 –1595) lediglich ausklingen zu lassen. Die Spanier erblicken ihr „Siglo d’oro“ in der Zeit von Cervantes (1547 –1616), Lope de Vega (1562 –1635) und Calderón (1600 –1681), die Engländer ihr „Golden Age“ im Umkreis von Shakespeare (1564 –1616), die Franzosen haben ihr „Grand Siècle“ in der Zeit von Corneille (1606 –1684), Molière (1622 –1673) und Racine (1639 –1699), und die Niederländer ihr „Golden Eeuw“ in der ihres Joost van den Vondel (1587 –1679). Es versteht sich von selbst, daß die solcher­maßen zu Klassikern ausgerufenen Autoren im kulturellen Gedächtnis dieser Nationen eine prominente Rolle spielen und daß ihre Werke bis auf den heutigen Tag bei ihnen ein zentraler Gegenstand des Interesses sind.

      Frühneuzeitliche Klassiker der Weltliteratur

      Sie alle sind übrigens früher oder später auch in Deutschland gelesen worden, und sie sind hier vielfach so intensiv rezipiert worden, daß sie in der deutschsprachigen Literatur tiefe Spuren hinterlassen haben. Ja einige von ihnen haben stärker auf spätere Generationen gewirkt und sind im literarischen Leben der Gegenwart präsenter als die meisten deutschen Autoren der frühen Neuzeit. Das gilt vor allem

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      Wie präsent das Oeuvre Shakespeares im kulturellen Leben der Gegenwart ist, ist nicht zuletzt daraus zu ersehen, daß es öfter verfilmt worden ist als das jedes anderen Autors der Weltliteratur. Fast jedes Jahr bringt mehrere neue Verfilmungen, und sie finden vielfach selbst dann ihr Publikum, wenn sie – wie „Heinrich V.“ von Kenneth Branagh – im Kostüm der Shakespeare-Zeit daherkommen und sich an die hochpoetischen, mit humanistischem Bildungsgut vollgepfropften Originaldialoge halten. Und natürlich ist auch das produktive Gespräch der Literatur mit Shakespeare bis heute nicht abgerissen, auch und gerade dort nicht, wo sie sich entschieden modernen Konzepten verschrieben hat. Hier sei nur an die „Hamletmaschine“ (1978) von Heiner Müller sowie an den „Park“ (1983) von Botho Strauß erinnert, wo noch einmal die Elfenwelt des „Sommernachtstraums“ beschworen wird.

      Shakespeare ist wohl das beste Beispiel dafür, daß auch die frühe Neuzeit zu literarischen Werken fähig war, die das Publikum bis heute in ihren Bann zu ziehen vermögen, daß auch ihre Kultur über gedankliche und ästhetische Ressourcen verfügte, die eine Literatur entstehen ließen, die den Menschen bis heute etwas zu sagen hat. Shakespeare ist freilich eine einzigartige Erscheinung, und so lassen sich ihm nur

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      wenige Autoren an die Seite stellen, die auf ähnlich eindrucksvolle Weise für die Bildungswelt der frühen Neuzeit zeugen. Doch es gibt sie, und es gibt genug von ihnen, um den Befund zu verallgemeinern. Da ist zunächst an Cervantes – mit vollständigem Namen: Miguel de Cervantes Saavedra – und seinen Roman „Don Quijote“ (1605 –1616) zu denken, und sodann an Molière – mit bürgerlichem Namen Jean-Baptiste Poquelin – und dessen Theater, an Komödien wie „Der Arzt wider Willen“ (1667), „Der Misanthrop“ (1667), „Tartuffe“ (1669), „Der Bürger als Edelmann“ (1672), „Der eingebildete Kranke“ (1673) und „Der Geizige“ (1682). Wie die Werke von Shakespeare finden auch sie bis heute auf direktem Wege zu einem breiten Publikum.

      Und ein weiterer Autor kann hier noch genannt werden, der zwar nicht ganz so bekannt ist, weil sein Werk nicht der Kernzone der Literatur angehört, der jedoch gerade von der modernen Literatur als Gesprächspartner besonders ernst genommen worden ist: Michel de Montaigne (1533 –1592). Seine „Essais“ (1580 –1595), kurze Aufsätze über die verschiedensten Gegenstände des Interesses, gelten als erstes Beispiel der Gattung „Essay“ und Muster der essayistischen Schreibweise, also eines literarischen Phänomens, das gerne für typisch modern gehalten wird. In ihnen will man erstmals die Stimme des modernen Individuums vernehmen, wie es sich als Selbstdenker durch die Welt bewegt, selbst den ehrwürdigsten Traditionen und der Wissenschaft mit Skepsis begegnet und in allem auf die eigene Erfahrung und die eigene Einsicht setzt.

      Moderne Züge?

      Shakespeare, Cervantes, Molière, Montaigne – diesen Namen läßt sich aus deutscher Sicht allenfalls der von Grimmelshausen an die Seite stellen. Denn er ist der einzige, der eine vergleichbare Präsenz im literarischen Leben der Gegenwart hat, und auch das nur mit Abstrichen. Literarhistoriker neigen dazu, an den Werken der genannten Autoren um solcher Präsenz willen bereits moderne Züge zu entdecken, so als hätten diese etwas von den Lebensverhältnissen, den Interessen und Vorstellungen des modernen Menschen vorausgeahnt; und manche berufen sich dabei immer noch auf das, was eine Genieästhetik, die freilich inzwischen in die Jahre gekommen


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