Geschichte der deutschen Literatur. Band 1. Gottfried Willems
damit von den Wurzeln, die ihr allein originäre Kraft und Authentizität hätten verleihen können; sie hatte die Kultur der Griechen und Römer gesucht und darüber ihre angestammte Basis aufgegeben. So stellte es sich jedenfalls der Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dar.
Neue Ansätze der Forschung
Natürlich hat sich die Germanistik inzwischen längst vom Standpunkt der Nationalromantik gelöst. Die Frage nach der „deutschen Eigenart“ ist, nachdem sie kritisch auf ihre problematischen ideologischen Grundlagen hin durchleuchtet worden ist, weithin durch andere Erkenntnisinteressen ersetzt worden. Und auch die Begriffe von Kreativität haben sich gewandelt, auf eine Weise, die der modernen Wissenschaft sehr viel differenziertere Blicke auf das Verhältnis von schöpferischer Phantasie und kulturellem Erbe erlauben als der alten Literaturgeschichtsschreibung. Und so hat sich die Germanistik inzwischen denn auch an einer Wiedergutmachung gegenüber der Literatur der frühen Neuzeit versucht. Das gilt vor allem für die Literatur des 17. Jahrhunderts, die Literatur des Barock. In zwei großen Anläufen – einem ersten in den zwanziger Jahren, einem zweiten in den
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sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts – entstand eine Barockforschung, die alles Erdenkliche unternahm, um den spezifischen Qualitäten der Barockliteratur auf die Spur zu kommen. Dabei spielte gerade die Frage nach dem Verhältnis von „Nachahmung und Schöpfung im Barock“ (G. Weydt)1 eine zentrale Rolle.
So groß die Erfolge dieser Barockforschung aber auch waren und so wichtig sie für die Entwicklung der Neugermanistik wurden – denn um der Literatur der frühen Neuzeit nahekommen zu können, mußte das methodische Instrumentarium der Literaturwissenschaft energisch erweitert werden, mußte eine kulturwissenschaftliche Wende vollzogen und der Blick über die Literatur hinaus auf den gesamten kulturgeschichtlichen Kontext ausgeweitet werden – sie konnte den einmal angerichteten Schaden nicht wieder beheben. Von ihren Entdeckungen ist kaum etwas in das Bewußtsein des breiten Lesepublikums eingedrungen; die deutsche Literatur der frühen Neuzeit ist weiterhin ein blinder Fleck im kulturellen Gedächtnis geblieben.
Moderne und frühneuzeitliche Literatur
Man kann dies auch daraus ersehen, daß sie nur selten von der Literatur des 20. Jahrhunderts rezipiert worden ist, die doch ansonsten einen regen Dialog mit allen möglichen Epochen unterhalten hat, und daß den Werken, die so entstanden, noch seltener ein Erfolg beschieden war. Recht eigentlich bekannt geworden ist im Grunde nur die „Mutter Courage“ (1941) von Bertolt Brecht, die Bearbeitung eines Romans von Grimmelshausen für das Theater. Schon „Das Treffen in Telgte“ (1979) von Günter Grass, ein Erzählung, in der eine Zusammenkunft der wichtigsten Dichter des Barock imaginiert wird, gehört zu den weniger erfolgreichen Werken des Autors. Und in der Gegenwartsliteratur findet man allenfalls noch bei dem einen oder anderen Lyriker Spuren frühneuzeitlicher deutscher Dichtung, etwa bei Sarah Kirsch oder bei Durs Grünbein.2 Bezeichnend ist auch, daß sich viele von denen, die ein Studium der Germanistik hinter sich gebracht haben, im hohen Mittelalter besser auskennen als in der frühen Neuzeit, deren Literatur ihnen doch eigentlich aufgrund der
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größeren zeitlichen Nähe leichter zugänglich sein sollte. Offenbar haben selbst hier die Präferenzen der nationalromantischen Literaturgeschichtsschreibung ihre prägende Kraft behalten.
Probleme für den modernen Leser
Wo aber von der Literatur einer Epoche so wenig im kulturellen Leben der Gegenwart präsent ist, da liegt der Verdacht nahe, daß man nichts Wesentliches verpassen würde, wenn man um sie einen Bogen machte. Diesem Verdacht wird man um so lieber Nahrung geben, als man bei der ersten Annäherung an die Textwelt der frühen Neuzeit feststellen muß, daß sie es einem modernen Leser nicht gerade leicht macht, ja daß sie ihm ein besonderes Maß an Leserfleiß, an Neugier, Konzentration und Ausdauer abverlangt. Die Probleme beginnen bereits mit der Sprache, in der sie auf den Leser zukommt, einem deutlich veralteten, in manchem fast unverständlich gewordenen Deutsch irgendwo zwischen Mittel- und Neuhochdeutsch, dem sogenannten Frühneuhochdeutsch. Nur von sehr wenigen Texten gibt es eine modernisierte, an unser Neuhochdeutsch angeglichene Fassung, etwa vom „Till Eulenspiegel“, von den „Schildbürgern“ und vom „Simplicissimus“; bei allem anderen ist man auf das frühneuhochdeutsche Original angewiesen – ein sicheres Indiz dafür, daß es vom heutigen Lesepublikum nicht mehr angerührt wird. Da bekommt man es dann mit befremdlichen Formen der Orthographie und Interpunktion zu tun, mit einer komplizierten, am Lateinischen geschulten Syntax und mit Wörtern, deren Semantik man sich immer wieder mit Hilfe des Grimmschen Wörterbuchs 3 erschließen muß.
Die Probleme mit der Sprache gehen aber noch weiter. Wer tiefer in die Welt der frühneuzeitlichen Literatur eindringen will, sieht sich früher oder später genötigt, es auch mit der neulateinischen Literatur aufzunehmen; so nennt man die lateinische Literatur seit dem 15. Jahrhundert. Denn die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur wird vielfach nur vor dem Hintergrund dessen verständlich, was seinerzeit im Raum dieser neulateinischen Literatur geschah. Die Elite der Gebildeten – Theologen und humanistische Gelehrte – verständigte sich und schrieb in lateinischer Sprache, und die deutschsprachige
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Literatur zehrte von dem, was hier an Texten entstand, was etwa die Humanisten bei ihrem Studium der antiken Kultur der Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen. So muß jede vertiefte Untersuchung eines Stoffs oder Motivs, einer Gattung, einer Stilfigur oder eines anderen Aspekts der Form, ja der Konzepte von Kunst und Literatur überhaupt irgendwann auch die Schwelle zum Lateinischen überschreiten; denn von den neulateinischen Texten ist noch weniger in unser modernes Deutsch übertragen worden als von den frühneuhochdeutschen.
Und weitere Hürden sind bei der Annäherung an die Literatur der frühen Neuzeit zu meistern. Die Autoren schrieben für ein Publikum, dessen Welt- und Menschenbild wesentlich durch die christliche Religion und das Erbe der Antike geprägt war und das insofern in einem Maße mit den Geschichten, Lehren, Bildern und sprachlichen Wendungen der Bibel, mit den Viten der Heiligen und den Dogmen und Normen der christlichen Theologie sowie mit den Mythen, den Götter- und Heldengeschichten der Griechen und Römer, mit deren Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Literatur vertraut war, das einem Leser von heute in der Regel nicht mehr gegeben ist. Will er dem Gerechtigkeit widerfahren lassen, was die Texte davon in sich aufgenommen haben, und will er sich keine der Anspielungen, der direkten und indirekten Verweise entgehen lassen, die in dieser untergegangenen Bildungswelt gründen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich in deren Wissensbestände einzuarbeiten.
Hinzu kommt, daß sich die Literatur der frühen Neuzeit auf Lebensformen bezieht und von Lebensformen spricht, die sich deutlich von dem unterscheiden, was ein heutiger Leser gewohnt ist. Denn natürlich sah der Alltag der Menschen in einer Welt, die noch nichts vom Fortschritt, von moderner Wissenschaft, technisch-industrieller Produktionsweise, demokratischer Bürgergesellschaft und bürokratischem Rechts- und Sozialstaat wußte, die in allem auf Tradition und Religion setzte, in ständische Hierarchien gegliedert war und von Landwirtschaft und Handwerk lebte, in vielem anders aus als heute. Auch damit muß sich der Leser erst vertraut machen.
Eine Literatur ohne bleibende Bedeutung?
Wo aber bereits im Vorfeld der Auseinandersetzung mit dem literarischen Text so viel an Vor- und Nebenarbeiten zu leisten ist, da kann die Frage nicht ausbleiben, ob sich der Einsatz wirklich lohne,
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und sie wird sich hier um so energischer zu Wort melden, als das kulturelle Gedächtnis nur so wenig von lohnenden Gegenständen weiß. Vielleicht hat die nationalromantische Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts ja doch nicht ganz Unrecht gehabt, wenn sie die frühe Neuzeit als eine bloße Übergangszeit behandelte. Vielleicht war ja etwas an der Kultur dieser Epoche – die Prädominanz der Theologie, die Fixierung auf das Erbe der Antike – das keine bleibenden