Geschichte des frühen Christentums. Markus Öhler
Auch die Interpretation heiliger Schriften wie der Sibyllinischen Bücher gehörte dazu. Ihr Bestand und ihre Auslegung wurden allerdings staatlich kontrolliert.
(Kult und Identität)
Die Bedeutung öffentlicher Religion für die Identität einer Stadt bzw. auch des Imperium Romanum war sehr hoch. Einzelne Gottheiten waren in besonderer Weise an Städte gebunden, sodass ihre Verehrung auch eine politische Dimension hatte. Die Teilnahme an Prozessionen und anderen Kultfeiern wurde zwar nicht erzwungen, sie gehörte aber zum mehr oder weniger selbstverständlichen Verhalten eines Bürgers einer Stadt. Aufgrund des polytheistischen Weltbilds bestand in der Regel auch kein Anlass, die Verehrung bestimmter Götter zu verweigern.
(Kaiserkult / Vergöttlichung)
Auch das römische Imperium wurde zu einem wichtigen Faktor für das religiöse Leben. Der Kaiserkult wurde zu einer zentral organisierten Form von Religion. Die Verehrung der nach ihrem Tod vergöttlichten Kaiser und ihrer Angehörigen sowie auch des jeweils lebenden Kaisers bzw. seines Genius war aufgrund des Geflechts von Propaganda, politischer Abhängigkeit und Gewährung von Privilegien ein wesentlicher Faktor im gesellschaftlichen Leben. Mit der Vergöttlichung (Divinisierung) von Julius Caesar nach seiner Ermordung 44 v. Chr. wurde dieser als divus Iulius unter die Staatsgötter aufgenommen. Sein Nachfolger und Adoptivsohn Augustus konnte sich daher zu Recht als „Sohn des Göttlichen“ (divi filius) bezeichnen, im Griechischen Raum als „Gottes Sohn“ (θεοῦ υἱός/theou huios). Diesem Schema von postmortaler Apotheose (lat. consecratio), also der Aufnahme unter die Götter, folgten die anschließenden Kaiser in der Regel, manchen, wie Nero oder Domitian, wurde sie aber von den Nachfolgern verweigert. Einige, wie Gaius Caligula, ließen sich schon zeitlebens als Gott verehren (Sueton, Cal. 22,2f.), andere, wie Tiberius, waren deutlich zurückhaltender (Sueton, Tib. 26).
(Kaiserkult in Kleinasien)
Im Osten des Imperium Romanum wurde die Kaiserverehrung problemlos aufgenommen, da dort schon seit Ende des 5. Jh. v. Chr. einzelne Personen, die sich durch militärische oder politische Erfolge hervorgetan hatten, noch zu Lebzeiten als göttlich verehrt wurden. Als die Römer den östlichen Mittelmeerraum nach und nach unterwarfen, rückten zunächst einzelne Vertreter Roms und schließlich die Kaiser in diese Rolle. Vor allem die Städte Kleinasiens bemühten sich verstärkt darum, zu provinzialen Zentren des Kaiserkults zu werden. Dazu war allerdings die Erlaubnis durch den Kaiser selbst notwendig, und so kam es zu einem Konkurrenzkampf zwischen den Städten bzw. deren führenden Eliten um dieses Privileg. Die Errichtung eines Kaiserheiligtums gehörte zu den wichtigsten städtebaulichen Maßnahmen, in Ephesus etwa entstand eines für Domitian bzw. die Flavischen Kaiser (82 n. Chr.) und in Pergamon eines für Trajan (nach 106 n. Chr.). Die öffentlichen Feiern zu Ehren des Kaisers in Prozessionen und Spielen waren Demonstrationen politischer Loyalität durch die lokalen Eliten, die für die aufstrebenden Städte Kleinasiens und in anderen Gegenden ungemein wichtig waren. Das Amt des Priesters bzw. der Priesterin für den Kaiserkult war eine besonders prestigeträchtige Funktion.
Trotz der eminent politischen Bedeutung war die religiöse Orientierung des Kaiserkults nicht nebensächlich: Die öffentlichen Opfer und Gebete richteten sich an den Kaiser, wenngleich auch die Anrufung anderer Götter für den Kaiser möglich war. Darüber hinaus war die Verehrung des verstorbenen oder später auch des lebenden Kaisers als Göttlichem auch auf lokaler und individueller Ebene bis in die Wohnhäuser hinein verbreitet.
(Judentum und Kaiserkult)
Judäa nahm hier insofern eine Sonderstellung ein, als die römischen Autoritäten dort auf lokale Gebräuche grundsätzlich Rücksicht nahmen. Da die Verehrung des Kaisers bzw. seiner Vorfahren und Familie gegen die Alleinverehrung von JHWH verstoßen hätte, trat an die Stelle des Kaiserkults das tägliche Opfer für das Wohl des Kaisers im Jerusalemer Tempel. Es wurde u. a. durch die Tempelsteuer finanziert, zu der alle Judäer – auch jene aus der Diaspora – nach Vorgaben der Tempelaristokratie verpflichtet waren (s. u. S. 76). Als 39/40 n. Chr. Caligula die Kaiserverehrung durch Errichtung einer Statue von sich selbst auch im Jerusalemer Tempel etablieren wollte (Philo, leg. ad Gaium 200–207; Josephus, bell. 2,184–203; ant. 18,261–288), führte dies zu heftigen Protesten. Sowohl Agrippa I. als auch der syrische Statthalter Publius Petronius verzögerten aber die Einführung des Kaiserkults in Jerusalem, da sie um die politische Sprengkraft einer solchen Aktion wussten. Nach Caligulas Tod, durch den die Aufstellung der Statue schließlich verhindert wurde, unternahmen seine Nachfolger bis 70 n. Chr. keine entsprechenden Versuche mehr.
2.4.2 Nicht-öffentliche Religion
(Ein Gott)
Als nicht-öffentliche Religion gelten im Folgenden alle Formen von Religiosität, die nicht durch öffentliche Funktionsträger als Beauftragte der Gesellschaft durchgeführt werden, sondern durch Menschen unabhängig von ihrem Status. An ihr wird auch deutlich, dass in der frühen Kaiserzeit trotz der vielfältigen Kulte eine Tendenz hin zu einer Singularisierung von Gottesvorstellung und Gottesverehrung bestand. Kulte und Akklamationen, in denen der „eine Gott“ (εἷς θεός/heis theos) bzw. der „höchste Gott“ (θεòς ὑψιστός/theos hypsistos) angerufen wurde, lassen diesen Zug zur Monolatrie (Alleinverehrung) erkennen.
2.4.2.1 Religion im Haus
(Hauskulte)
In der griechisch-römischen Antike war der alltägliche Ort für Religion das Haus, die religiöse Gruppe die Hausgemeinschaft (s. o. 2.2.3.1). Die im Westen durch die Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum hervorragend dokumentierten Formen häuslicher Religiosität fanden sich im hellenistisch geprägten Raum in ähnlicher, wenn auch charakteristisch veränderter Weise. Beiden gemeinsam war die Zentralität des Herdfeuers, an dem Hestia bzw. Vesta, die Hüterin von Heim und Herd, verehrt wurden. Einzelne Gottheiten wie Zeus oder Herakles waren im griechischen Raum dem Schutz des Hauses zugeordnet. Auch der Agathos Daimon („der gute Geist“) gehörte dazu, der in Form von Schlangen verehrt wurde. In römischen Hauskulten spielte die Verehrung der Laren, der Familiengötter, des Genius des Paterfamilias bzw. der Juno der Materfamilias und der Ahnen eine wichtige Rolle.
(Die Hausgemeinschaft als Kultgemeinschaft)
Dazu traten zahlreiche Gottheiten aus dem griechischen oder römischen Pantheon und weit darüber hinaus, die je nach den individuellen Bedürfnissen und Traditionen der Familie bzw. Einzelner in Schreinen, als Statuetten oder Bilder verehrt wurden. Kleine, zumeist unblutige Opferhandlungen und andere Rituale wurden täglich oder zu bestimmten Gelegenheiten durchgeführt. Auch Sklaven und Sklavinnen konnten hier eigenen religiösen Interessen, die oft ihrer lokalen Herkunft entsprachen, nachkommen, waren aber zugleich an den gemeinsamen Kulten des Hauses beteiligt. Neben den religiösen Ritualen im häuslichen Bereich gehörten auch jene an Hausecken oder in kleinen Nachbarschaftsheiligtümern zu den Möglichkeiten, alltägliche Religiosität zu pflegen. Diese Handlungen gelebter Religiosität standen nicht im Gegensatz zu den im Vergleich seltenen und von den Eliten vollzogenen öffentlichen religiösen Kultfeiern, sondern nahmen diese teilweise auf, ergänzten sie aber noch um individuell ausgewählte Gottheiten.
2.4.2.2 Religion als Mysterium
(Mysterienkulte)
Individuelle Auswahl religiöser Bezüge lag auch dort vor, wo sich Einzelne an Gemeinschaften anschlossen, die sich kultischer Praxis widmeten. Dies geschah in religiös orientierten Vereinigungen (s. o. 2.2.3.3), vor allem in Mysterienvereinen. Deren Kulte spielten eine wichtige Rolle für das religiöse Erleben in der griechisch-römischen Antike. Sie waren allerdings nicht offen für jedermann, sondern regulierten die Mitgliedschaft anhand von Statusgrenzen.
Ihrem Charakter als „geheim“ entsprechend sind unsere Informationen zu Praktiken und religiösen Vorstellungen von Mysterienkulten eingeschränkt. Manches lässt sich aber u. a. aus dem Roman „Metamorphosen“ des Apuleius aus der Mitte des 2. Jh. n. Chr. entnehmen, anderes aus polemisch gefärbten Nachrichten der Kirchenväter.
(Mysterienrituale)
Wesentliche Elemente antiker Mysterien waren folgende:
– die Initiation als Einführungsritual, bei dem Riten, bauliche Arrangements und Artefakte zusammenspielten,