Geschichte des frühen Christentums. Markus Öhler

Geschichte des frühen Christentums - Markus Öhler


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Zeugnisse Einblicke in die konkreten Zustände gewähren. Dabei sollte unbedingt beachtet werden, dass sich die überwiegende Mehrzahl der Judäer und Judäerinnen selbst keiner konkreten Partei bzw. Schule zuordnete, sondern eine Orientierung an zentralen Grundgedanken und Praktiken als bestimmendes Merkmal der ethnischen und religiösen Identität ansah.

      Trotz der verschiedenen Ausprägungen des Judentums im 1. und 2. Jh. n. Chr. lassen sich einzelne Grundelemente beschreiben, die in unterschiedlicher Gewichtung in allen Bereichen des Judentums – sowohl in Palästina als auch in der Diaspora – zu erkennen sind. Sie spielten auch im entstehenden Christentum eine maßgebliche Rolle.

      3.1.1 Monotheismus

      (Ein Gott: JHWH)

      Die Entwicklung des Glaubens an JHWH, den Gott Israels, führte nach der Zerstörung des 1. Jerusalemer Tempels (597 v. Chr.) in Teilen der israelitischen Prophetie zu einer Veränderung des Gottesbildes. Während man in früheren Phasen der israelitischen religiösen Entwicklung erkennen kann, dass die Verehrung nur des einen Gottes JHWH (Monolatrie) bzw. JHWHs als höchstem Gott (Henotheismus) als Proprium Israels galt, entwickelte sich in der Exilszeit die Ansicht, dass es überhaupt nur einen Gott, nämlich JHWH, gebe (exklusiver Monotheismus). Dieser sei also nicht nur der Gott Israels, sondern der einzige Gott für alle Menschen (vgl. z. B. Jes 43,10f.; 45,14). Im 1. und 2. Jh. n. Chr. gehört diese Überzeugung zum festen Bestand judäischer Identität und wurde auch von Außenstehenden als Charakteristikum des Judentums wahrgenommenen (z. B. Arist. 132; Tacitus, hist. 5,5,4). Die Bedeutung des Monotheismus für das antike Judentum zeigt sich u. a. in der Bedeutung des Sch’ma Israel (Dtn 6,4) für die alltägliche Religiosität. Der ursprünglich als Ermahnung zur Monolatrie intendierte Ruf wurde als Formel zur Beschreibung des Monotheismus verstanden, als Gebet rezitiert und in Form von Amuletten getragen:

      „Höre, Israel: JHWH ist unser Gott, JHWH allein!“

      (Monotheismus im frühen Christentum)

      Auch in der Jesustradition (Mk 12,28f. par), bei Paulus (1Kor 8,6) und in späteren Traditionen (Eph 4,6; 1Tim 2,5; Jak 2,19) spielt diese Formel konstant eine Rolle. Der Monotheismus des antiken Judentums implizierte die Ablehnung aller anderen Götter und entsprechender kultischer Handlungen. Er führte daher an sich schon zu einer mehr oder weniger deutlichen Abgrenzung gegenüber Angehörigen anderer Völker, auch wenn es unter philosophischer Perspektive auch bei Griechen und Römern eine Tendenz zum Monotheismus gab (s. o. S. 49).

      3.1.2 Erwählung, Bund und Tora

      Der einzige Gott, JHWH, hatte sich Israel – so die heilsgeschichtliche Bezeichnung für das judäische Volk – unter allen Völkern erwählt, mit ihm einen Bund geschlossen und ihm das Gesetz als Bundesordnung gegeben.

      (Erwählung)

      Die Erwählung Israels durch Gott wird im Alten Testament und in Texten des frühen Judentums immer wieder in den Vordergrund gestellt, steht aber oft auch unausgesprochen im Hintergrund. Laut Dtn 7,6–8 ist Israel ein Gott geheiligtes Volk, ausgewählt aus den Völkern aufgrund der Liebe JHWHs (vgl. auch Jes 43,20f.). So sehr diese Überzeugung immer wieder durch Geschichtsereignisse ins Wanken geriet, blieb der Gedanke der Erwählung doch ein bestimmendes Moment des antiken Judentums. Er wird u. a. in der Apokalyptik deutlich (z. B. 4Esr 5,27), in den Qumrantexten (z. B. 1QS 4,22) oder bei Philo von Alexandrien (z. B. post. 89). Dabei ist allerdings zu beachten, dass der Erwählungsgedanke mehr und mehr auf eine bestimmte Gruppe innerhalb Israels – „die Gerechten“ oder „die Söhne des Lichts“ – eingeschränkt oder, wie bei Philo, zu einer Individualerwählung umgedeutet wurde. Denn die Erwählung des Volkes bedeutet zugleich die Verpflichtung zum Bundesgehorsam, dessen Einhaltung zur Bedingung des Verbleibs im Bund wird. Damit wird aber auch Israel beauftragt, seiner Erwählung im Glauben und Handeln zu entsprechen.

      (Bund)

      Die Vorstellung eines Bundes Gottes mit Israel, sei es unter Verweis auf den Bundesschluss mit Abraham (Gen 15,18; 17,1–21) oder mit Mose (Ex 19; 24; 34), stellt ebenfalls ein Kontinuum des antiken Judentums dar. Sie kommt u. a. im Sirachbuch (44f.), im Buch der Jubiläen (15,26–29) und in der rabbinischen Literatur (z. B. MekhJ Shirata 10) immer wieder zum Ausdruck. Allerdings zeigt sich in den Qumrantexten, dass es auch möglich war, den Bund – wie die Erwählung – nur einer kleinen Gruppe aus Israel zuzusprechen, dem sogenannten „neuen Bund“ (z. B. CD 6,19; vgl. Jer 31,31). Bei Philo von Alexandrien tritt der Bundesgedanke hingegen zurück: Judäer seien vielmehr Mitglieder der „Bürgerschaft des wahren Lebens“ (virt. 219).

      (Tora)

      Die Tora (hebr. tôrāh „Weisung“), die im Griechischen als „das Gesetz“ bezeichnet wird (ὁ νόμος/ho nomos) und die fünf Bücher Mose umfasst, war für das antike Judentum dasjenige Textkorpus, in dem die bindenden Traditionen der Vorväter sowie jene Merkmale festgehalten wurden, die die ethnische Identität des Judentums bestimmen sollten. Sie wurde als jene Ordnung verstanden und interpretiert, die Gott durch Mose seinem erwählten Volk gegeben hatte, damit dieses den mit Gott geschlossenen Bund einhalten konnte. Die Tora sollte also nicht primär zu guten Werken anleiten, die vor Gott beim Gericht vorgebracht werden konnten, sondern als Weisung zum Verbleib im Bundesverhältnis. Diese Grundausrichtung kann als „Bundesnomismus“ bezeichnet werden, wenngleich dieser in sehr unterschiedlichen Spielarten gedacht wurde.

      (Die Bedeutung des Gesetzes)

      Mose galt sowohl als Verfasser der Tora (vgl. Dtn 1,1) als auch als Gesetzgeber (z. B. Josephus, c. Ap. 2,153f.). Ebenso wird immer wieder festgehalten, dass die Tora Gottes Gabe an Israel darstellt (z. B. Ex 24,3). Sie regelt umfassend alle Bereiche der Gesellschaft: Sie ist kultisches Gesetz, wenn sie u. a. die Einzigkeit des Jerusalemer Heiligtums, die Opferhandlungen und die priesterlichen Familien festlegt. Sie ist politische Ordnung, indem sie den Priestern die beherrschende Stellung im Staat zuspricht. Ihre Bestimmungen zu Ehe und Familie, zu Sexualität, zu reinen und unreinen Speisen, zu Wirtschafts- und Fremdenrecht u.v.m. umgreifen alle Lebenskontexte. Josephus gewährt einen Einblick in die Wahrnehmung der Tora durch einen gebildeten Judäer, der griechisch-römischen Lesern plausibel machen will, wodurch sich die Tora im Kontext antiker Gesetzestraditionen unterscheidet (c. Ap. 2,146):

      „Unsere Gesetze geben die beste Anleitung zur Gottesfurcht, zur Gemeinschaft miteinander und zur umfassenden Menschenfreundlichkeit, sowie zur Gerechtigkeit, zur Ausdauer in Beschwerden und zur Todesverachtung.“

      (Die Tora im frühen Christentum)

      Die Bindung an die Tora stellte eine der größten Herausforderungen für die Identitätskonstruktionen des frühen Christentums dar, wie im Laufe der folgenden Darstellung wiederholt deutlich werden wird (s. u. 10 u. 13). Auch die Frage, welche Bedeutung die Erwählung Israels und der Bund Gottes mit seinem Volk angesichts der endzeitlichen Zuwendung Gottes in Jesus Christus haben könnte, wurde gerade angesichts der nur geringen Akzeptanz des Evangeliums unter Judäern virulent (vgl. Röm 9–11). Die heiligen Schriften Israels, in ihrer hebräischen Form oder in der griechischen Übersetzung, waren selbstverständlicher Ausgangspunkt und Maßstab für das Verständnis des Christusereignisses, wenngleich unter einem neuen, veränderten Blickwinkel.

      3.1.3 Jerusalem und der Tempel

      (Die religiöse Bedeutung des Tempels)

      Die Bedeutung des Jerusalemer Heiligtums wird in den heiligen Schriften Israels sowohl in der Tora (v. a. Dtn 12,13–28) als auch in der sog. Zionstheologie (z. B. Ps 9,12; Am 1,2; Jes 14,32), die den Tempelberg als Gottes Wohnstätte versteht, zum Ausdruck gebracht. Der Tempel wurde als der zentrale Ort angesehen, an dem Gott – bilderlos – verehrt wird. Die Vorstellungen von Gottes Anwesenheit im Tempel und der Heiligkeit seiner Stadt Jerusalem wurden weithin geteilt (vgl. z. B. Mt 23,21; Josephus, bell. 6,300), auch wenn es Gegenstimmen gab (z. B. Jes 66,1f.; Apg 7,48). Der Alexandriner Philo betrachtete Jerusalem als seine Mutterstadt (Flacc. 46), obwohl er sie nur einmal in seinem Leben besucht hatte. Judäer aus Palästina und der Diaspora finanzierten durch die Tempelabgabe den Kult (s. u. S. 76) und pilgerten zu den Festzeiten


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