Interkulturelle Philosophie. Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie - Niels Weidtmann


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ist jede Wahl der Lebensform aber abhängig von der konkreten Situation, in der sich der Einzelne befindet; sie ist abhängig von den Lebenserfahrungen, die der Einzelne macht; und sie ist abhängig vom Einfluss anderer, von deren Vorbildcharakter oder auch abschreckendem Beispiel, von deren Erfahrungen und Erzählungen. Es gehört, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, zur westlichen Kultur des 21. Jahrhunderts, sich ebenso gut für eine buddhistische wie eine christliche oder auch ganz gegen jegliche Glaubenshaltung entscheiden zu können. Das war nicht immer so und das ist nicht überall so. Und wir stoßen damit auch keinesfalls überall auf Zustimmung. Deswegen aber andere Kulturen als rückständig zu betrachten, entspricht kaum dem auf Diversifizierung bedachten Selbstverständnis der Transkulturalität.

      Zusammenfassung

      Das Paradigma der Transkulturalität, so ließe sich zusammenfassend sagen, versucht der Realität moderner, durch Migration und kulturelle Durchmischung geprägter Gesellschaften gerecht zu werden. Es löst die Vorstellung zusammenhängender Kulturen zugunsten einer Vielzahl voneinander unabhängiger Lebensformen auf, die – so die Vorstellung – individuell frei kombiniert werden können. Tatsächlich können wir heute in einer europäischen Gesellschaft leben, aber zugleich dem Buddhismus anhängen; wir können Deutsch sprechen, uns aber Chinesisch ernähren; wir können zugleich Fußballfan sein und Taekwondo üben. Das Paradigma der Transkulturalität scheitert aber daran, dass die verschiedenen Lebensformen eben nicht unabhängig voneinander bestehen, sondern wechselseitig Einfluss aufeinander ausüben. So wie die Lebensformen, die ich individuell wähle, irgendwie zueinander passen müssen, will ich nicht in eine multiple Persönlichkeit zerfallen, so müssen auch die Lebensformen einer Gesellschaft langfristig einigermaßen zusammen passen. Natürlich ist es möglich, Lebensformen anderer Kulturen aufzugreifen, sie werden dann aber aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgerissen und in einen neuen gesetzt; und das hat Auswirkungen auf die einzelne Lebensform. Ich kann heute also tatsächlich auch als Europäer und in Europa lebend Buddhist sein, »[d]och ein europäischer Buddhist bleibt ein Europäer, der sich zum Buddhismus bekehrt hat«.1 Das Paradigma der Transkulturalität verkennt, dass Kulturen keine Entitäten sind, schon gar keine essentialistischen, sondern stattdessen so etwas wie die jeweils konkrete geschichtliche Gestalt des Zusammenspiels zahlreicher Lebensformen darstellen. Umgekehrt sind auch die Lebensformen nicht essentialistisch und gerade deswegen auch nicht frei verfügbar; was eine Lebensform ausmacht, hängt wesentlich am kulturellen Kontext, in dem sie gelebt wird.

      1.3 Interkulturalität

      Der Begriff der Interkulturalität bezieht sich auf jenes ›Zwischen‹ von Kulturen, das in der Begegnung und im Austausch der Kulturen sichtbar wird. Interkulturell werden die Kulturen grundsätzlich von diesem Zwischen her verstanden, das jenseits der Kulturen liegt und diese deshalb zu einer Orientierung über ihr Eigenes hinaus bewegt. Interkulturalität betont darum von Beginn an die innere Dynamik, die allen Kulturen zueigen ist und die sich nirgendwo so deutlich erweist wie im Kontakt zu anderen Kulturen. Dieser Kontakt ist es, der Kulturen lebendig erhält: die Kritik aneinander ebenso wie das Lernen voneinander. Interkulturalität zielt deshalb nicht primär auf ein Modell für das Verstehen anderer Kulturen, sondern versucht demgegenüber, auf die Selbstverantwortung und die Lebendigkeit von Kulturen aufmerksam zu machen, die jedes von außen herangetragene Modell irgendwann sprengen müssen.

      Einen Austausch zwischen Kulturen gab es vermutlich immer, mal friedlicher, häufiger weniger friedlicher Natur. In vielen Fällen hat solcher Austausch die Entstehung von neuem befördert und den Wandel der Kulturen begünstigt. Dabei ist ein solcher Austausch auch über Epochengrenzen hinweg möglich, wie etwa in der islamischen Welt, als zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert ein großer Teil der verfügbaren griechischen Literatur ins Arabische übersetzt wurde und die Entwicklung der arabischen Wissenschaften und eines arabisch-islamischen Staatswesens nachhaltig beeinflusst hat. Umgekehrt gilt, dass sich eine Kultur, die von der Außenwelt abgeschnitten ohne irgendwelche externen Einflüsse lebt, sehr viel schwerer tut, Gewohntes in Frage zu stellen und Neues auszuprobieren. Faktisch kennen wir solch annähernde Isolation nur von wenigen sehr kleinen Naturvölkern, bei denen der Druck zu Veränderung schon wegen der geringen Größe und dem darum vergleichsweise stabilen, wenn auch kargen Ressourcenangebot niedrig ist. Freilich gibt es selbst hier Austausch zwischen benachbarten Gruppen. Kulturen leben vom Austausch. Das Zwischen ist lebensnotwendig, es ist konstitutiv für die stetige Erneuerung und damit das Fortbestehen von Kulturen.

      Das am häufigsten gegen den Begriff der Interkulturalität vorgebrachte Argument zielt darauf ab, dass die Rede von einer Inter-Kulturalität voneinander getrennte, für sich existierende Kulturen voraussetze; andernfalls mache es keinen Sinn, von so etwas wie einem Zwischen zu sprechen.1 Die Voraussetzung voneinander getrennter, für sich existierender Kulturen aber berge die Gefahr, Kulturen zu essentialisieren, d.h. ihnen ein unveränderbares Wesen zuzuschreiben, das sie von anderen Kulturen radikal unterscheidet. Ein solches Kulturverständnis erlaube keinerlei Wandel und leugne zudem letztlich die Möglichkeit einer Verständigung zwischen den Kulturen. Tatsächlich ist dieser Kritik darin zuzustimmen, dass ein essentialistisches Kulturverständnis weit an der Realität vorbeigeht. Kulturen verändern sich und nehmen Einflüsse von außen auf; auch kann der Einzelne in eine andere Kultur eintauchen und diese kann zu seiner eigenen werden. Falsch ist dagegen die Annahme, Interkulturalität setze klar voneinander getrennte, kugelartig abgeschlossene Kulturen voraus. Im Gegenteil, der Begriff der Interkulturalität macht gerade darauf aufmerksam, dass die Kulturalität einer Kultur nur vom Zwischen her zu verstehen ist. Eine Kultur hängt konstitutiv am Zwischen und dem Austausch mit anderen Kulturen, für die eben dasselbe gilt. So ist das Zwischen der eigentliche Lebensquell der Kulturen; damit ist auch klar, dass eine Kultur niemals zu so etwas wie der Verwirklichung ihrer selbst gelangt, kann dieses Selbst doch immer bloß eine Momentaufnahme der Auseinandersetzung mit jenem Zwischen sein und ist damit also selber stetigem Wandel unterworfen. Das Aufmerken auf die interkulturelle Dimension eröffnet uns deshalb ein ganz neues und tieferes Verständnis von Kultur: Nicht nur verändert sich jede Kultur über die Zeit, vielmehr ist sie ihrem Wesen nach Veränderung, Wandel und Austausch. Sie ist, um es in der Begrifflichkeit von LévinasLévinas, Emmanuel auszudrücken, die WaldenfelsWaldenfels, Bernhard für interkulturelle Fragestellungen fruchtbar gemacht hat, zu keinem Zeitpunkt mehr als der Versuch einer »Antwort« auf den aus dem Zwischen der Kulturen kommenden »Anspruch«.2 Der Anspruch selbst entzieht sich der Kultur grundsätzlich, und so entzieht sich ihr auch die Richtung ihrer eigenen Entwicklung – und damit das, was man vormals das Wesen genannt hat. Interkulturell verstanden sind die Kulturen also keinesfalls als absolut differente Wesen voneinander getrennt. Ein solches Verständnis greift viel zu kurz, es verdinglicht die Kulturen und versteht die Pluralität der Kulturen als ein Nebeneinander voneinander getrennter Entitäten. Ein solches Nebeneinander freilich setzt immer schon so etwas wie einen gemeinsamen Raum voraus. So entpuppt sich der Relativismus, der interkulturellem Denken gelegentlich vorgeworfen wird, als bloße Kehrseite jenes Universalismus, in dessen Namen der Vorwurf erhoben wird. In Wirklichkeit ist die Sachlage viel spannender: Die andere Kultur ist von der eigenen nicht durch einzelne Errungenschaften, Gewohnheiten oder Überzeugungen unterschieden; dafür wäre ein gemeinsamer Vergleichsrahmen notwendig. Die andere Kultur ist gar nichts anderes als die eigene Kultur, sie ist dasselbe – nur anders. Sie ist dasselbe anders und entzieht sich deshalb jedem denkbaren Vergleich. Die Erfahrung des Fremden, darauf macht Waldenfels aufmerksam, ist die der Anwesenheit des Abwesenden. Die andere Kultur zeigt sich als sich entziehende. Der Widerspruch, der darin liegt, lässt sich nur dadurch auflösen, dass man das verdinglichende Verständnis von Kulturen aufgibt und schon die eigene Kultur als lebendig, d.h. als sich stetig erneuernd und über sich hinausstrebend verstehen lernt. ›Dasselbe‹, das eine andere Kultur auf andere Weise ist, ist dann kein ›Etwas‹, sondern lediglich das Zwischen der Kulturen, aus dem heraus sich alle Kulturen gleichermaßen konstituieren.

      Diese Betonung der Prozeduralität und grundsätzlichen Unabgeschlossenheit von Kulturen spiegelt sich in den methodischen Ansätzen interkultureller Philosophie wider. KimmerleKimmerle, Heinz versteht Interkulturalität dialogisch, wobei im Dialog keine Informationen ausgetauscht, sondern Zwischenräume ausgelotet werden.3 Das Hören-können geht dem Verstehen-können voraus. WimmerWimmer, Franz M. erweitert den Dialog


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