Interkulturelle Philosophie. Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie - Niels Weidtmann


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des Kulturbegriffs herangezogen.1 Der Begriff geht auf Fernando OrtizOrtiz, Fernando zurück, der ihn bereits um 1940 dazu verwendete, den kulturellen Wandel auf Kuba zu beschreiben.2 Später wurde er, zunächst vor allem in Amerika, in verschiedenen Disziplinen aufgegriffen.3

      WelschWelsch, Wolfgang übernimmt den Begriff der Transkulturalität, um die kulturelle Wirklichkeit der Gegenwart zu beschreiben, die, so Welsch, durch die Auflösung der Einzelkulturen geprägt ist. Das Leben des Einzelnen ist nicht so sehr durch seine kulturelle Herkunft als vielmehr durch die ökonomische Situation, durch Bildungschancen, politische Gestaltungsmöglichkeiten, die Freiheit des Glaubens, ökologische Rahmenbedingungen und viele weitere Faktoren bestimmt, die allesamt nicht kulturspezifisch sind, sondern in den verschiedenen Kulturen gleichermaßen virulent sind. In allen Kulturen stellen sich heute ähnliche Probleme, und immer häufiger lassen sich Antworten auf diese Probleme nur noch gemeinsam finden. Das führt zu einer Angleichung der Kulturen aneinander. Zugleich aber beobachten wir einen starken Differenzierungsprozess innerhalb der Kulturen. Früher als verbindlich erachtete Lebensformen weichen einer Vielzahl individueller Lebensstile, die längst auch Praktiken anderer kultureller Traditionen integrieren. So wird etwa die christliche Verwurzelung der meisten europäischen Kulturen keinesfalls nur durch den Abfall vom Glauben und eine sich stark verbreitende ›Unmusikalität‹ in Glaubensfragen (Max Weber) relativiert; vielmehr treten immer häufiger neben den christlichen Glauben auch andere Glaubensformen, die aus anderen Kulturen übernommen und in den Lebensentwurf von Menschen integriert werden, die in überwiegend christlich geprägten Gesellschaften leben. Noch viel offensichtlicher wird die Durchmischung der Kulturen mit Blick auf alltäglichere Phänomene, etwa die Essgewohnheiten, die Musik, die Literatur und den Sport. Ganz selbstverständlich hören wir heute afrikanische Musik (bezeichnender Weise unter dem Titel der ›Weltmusik‹), lesen lateinamerikanische Literatur und treiben asiatische Kampfsportarten. Die Durchlässigkeit der Kulturen wird durch Migration und globale Kommunikation immer weiter vorangetrieben. Keine Kultur kann es sich heute noch leisten, sich gegen andere abzuschotten und ihre eigenen Traditionen gegen äußere Einflüsse zu verwahren. Welsch spricht davon, dass kulturelle Authentizität heute zu Folklore verkommen ist. In jeder Kultur sind Lebensformen und -praktiken aller Kulturen zu finden. Diversifizierung der Einzelkulturen und Angleichung der verschiedenen Kulturen stellen die zwei Seiten ein- und desselben Prozesses dar: Dieser Prozess besteht in der Auflösung der traditionellen und traditionsbezogenen Kulturen zugunsten einer diversifizierten und transkulturellen Globalität. Der Einzelne gewinnt seine Identität nicht mehr vorrangig aus seiner kulturellen Herkunft, sondern setzt sie, so Welsch, aus einer Vielzahl von Komponenten ganz verschiedenen kulturellen Ursprungs zusammen.

      Es ist WelschWelsch, Wolfgang wichtig zu betonen, dass ein solch transkulturelles Modell nicht nur besser geeignet ist, die gegenwärtige Situation zu beschreiben, sondern darüber hinaus auch in seinem normativen Anspruch vertretbar ist. Es befreit den Einzelnen aus kulturellen Zwängen und löst die Kulturen aus der abwehrenden Konkurrenz, in der sie Welsch zufolge traditionell zueinander standen (obwohl Welsch keinesfalls leugnet, dass es gelegentlich auch früher schon einen fördernden Austausch zwischen den Kulturen gegeben hat; nur war dies nicht die Regel und hat schon gar nicht das Selbstverständnis der Kulturen geprägt).

      WelschWelsch, Wolfgang grenzt seine Konzeption der Transkulturalität strikt gegen jene von Multi- und Interkulturalität ab, denen er beiden vorwirft, an einem alten, traditionsbezogenen Kulturbegriff festzuhalten. Um diesen alten Kulturbegriff zu veranschaulichen, greift Welsch auf die HerderHerder, Johann G. entlehnte Metapher der Kugeln zurück. Demnach sind Kulturen kugelartig – in sich ruhend und nach außen abgeschlossen. Eine solche Vorstellung (die freilich so von Herder selbst gar nicht vertreten wurde) geht davon aus, dass jede Kultur ihr eigenes Wesen besitzt, das sich in allen Lebensformen dieser Kultur zeigt. Dieses traditionelle Kulturmodell ist deshalb das einer homogenen, substantiell kaum wandelbaren und eben deshalb in hohem Maße traditionsbezogenen Kultur. Zudem wird ein solch kugelartiges Kulturverständnis häufig mit einem einzelnen Volk in Verbindung gebracht, so dass die Zugehörigkeit zu einer Kultur damit korreliert, einem bestimmten Volk anzugehören. Schließlich sind die kugelartigen Kulturen auf ihr Wesen als dem eigenen Mittelpunkt bezogen und grenzen sich gegen andere Kulturen radikal ab. Daraus resultieren zahlreiche Konflikte. Welsch versteht die Konzeption der Interkulturalität nun als den Versuch, diesen Konflikten durch einen Dialog der Kulturen zu begegnen. Die Kulturen sollen trotz ihrer vehementen Abgrenzung gegeneinander lernen, sich wechselseitig zu respektieren und in Frieden miteinander zu leben. Ganz ähnlich versteht er auch Multikulturalität als das geregelte Nebeneinander verschiedener, voneinander getrennt bleibender kultureller Einheiten innerhalb einer Gesellschaft. Freilich, so ehrenhaft das Bestreben, Konflikte zu vermeiden, auch ist, kranken Welsch zufolge sowohl Interkulturalität als auch Multikulturalität daran, dass sie an einem traditionellen Kulturverständnis festhalten, das den Gegebenheiten der Gegenwart nicht mehr entspricht und ihren Anforderungen nicht genügen kann.

      Das Konzept der Transkulturalität scheint die kulturelle Situation der Gegenwart auf den ersten Blick in der Tat adäquat zu beschreiben. Wir sind heute nicht mehr auf eine kulturell einheitliche Lebensform festgelegt; im Gegenteil, wir legen großen Wert auf einen individuellen Lebensstil und greifen bei der Gestaltung dieses Lebensstils ganz selbstverständlich auf Errungenschaften anderer Traditionen zurück. Schon der zweite Blick freilich sollte uns ein wenig vorsichtiger werden lassen. Was uns in Nord- und Mitteleuropa selbstverständlich zu sein scheint, gilt in anderen Gegenden nicht unbedingt in gleicher Weise. Schon im südeuropäischen Raum ist die Bindung an Traditionen ungleich stärker als im Norden. Und doch mag man die transkulturelle Beschreibung grosso modo für den gesamten Westen, einschließlich Nordamerikas gelten lassen. Aber leben die Menschen in islamisch geprägten Ländern auf gleiche Weise transkulturell? Wir unterstellen zumeist, dass sie das anstreben, und wundern uns dann, wenn religiös geprägte Parteien, die sich auf eine bestimmte Tradition stützen, in einer demokratischen Wahl an die Macht kommen. Wie steht es mit Schwarzafrika, mit Ostasien, mit Lateinamerika? Lassen sich die Unterschiede zwischen den Lebensformen in diesen Gegenden tatsächlich auf individuell verschiedene Stile reduzieren? Sicherlich, das Internet verbindet das afrikanische Dorf mit der japanischen Metropole, aber liegen die Unterschiede deshalb wirklich nur noch in der Differenz zwischen Dorf und Stadt, zwischen arm und reich begründet? Viel nahe liegender ist es anzunehmen, dass sich weiterhin die Lebenserfahrungen der nächsten Umgebung prägend auf die Gestaltung individueller Lebensstile auswirken. Diese Lebenserfahrungen freilich ändern sich in unserer globaler werdenden Welt. Insofern ist WelschWelsch, Wolfgang durchaus zuzustimmen in seiner Diagnose eines Wandels der Kulturen. Nur bedeutet ein solcher Wandel nicht die Auflösung konkreter, geschichtlich geprägter Lebenskontexte – und eben das sind die Kulturen.

      Vor allem aber ist die Konzeption der Transkulturalität keineswegs voraussetzungslos: Die transkulturelle Gesellschaft setzt ganz ähnlich wie die multikulturelle einen liberalen, wertneutralen Rechtsstaat voraus, der die Gleichberechtigung der diversen Lebensformen und -stile sichert. Es sei darum nochmals an TaylorsTaylor, Charles Wort vom Liberalismus als einer »kämpferischen Weltdeutung« erinnert.4 Transkulturell kann eine Gesellschaft nur werden, wenn dies die Richtung ist, in die sich eine Kultur entwickelt. Transkulturalität ist dann aber eben auch nur so etwas wie ein kultureller Stil.

      Aus philosophischer Sicht stellen sich freilich noch ganz andere Fragen. Die Vorstellung einer Auflösung der Kulturen zugunsten einer Pluralität von Lebensformen, die sich aus Komponenten verschiedener Traditionen zusammensetzen, offenbart ein Kulturverständnis, das gerade im Licht von WelschsWelsch, Wolfgang Kritik am traditionellen Kulturbegriff höchst fragwürdig erscheint:

      Philosophisch gesehen liegt der entscheidende Schritt vom traditionellen zum transkulturellen Kulturbegriff, so wie WelschWelsch, Wolfgang beide darstellt, in der Auflösung einer als homogen und auf ihr eigenes Wesen ausgerichtet vorgestellten Entität zugunsten der Verflechtung, Durchmischung und Wechselbeziehung zwischen heterogenen und wandelbaren Lebensformen. Die Kulturen sind dieser Vorstellung zufolge nicht durch unveränderbare Wesensgehalte, sondern durch konkrete Lebensformen und Lebenspraktiken bestimmt. Die Lebensformen wandeln sich mit der Zeit und sie können sich kulturübergreifend mischen. Schon innerhalb einer Kultur treten ganz verschiedene Lebensformen in einen lebendigen Austausch untereinander und bedingen dadurch Heterogenität schon


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