Theorien des Fremden. Wolfgang Müller-Funk
wie wir sie aus den ethnographischen Diskursen der NeuzeitNeuzeit kennen, im Rückzug begriffen sein könnte oder, wie ich an anderer Stelle schrieb, zum raren Gut geworden ist, während in der ‚eigenenEigentum‘ KulturKultur Fremdheit auf paradoxe Weise wächst.1 NichtsNichts spricht selbst in einer für Mode und Trends so anfälligen Kultur dafür, dass sich dies bald ändern wird. Es scheint, als ob mit der sich verändernden Figur des Fremden jene kulturelle DynamikDynamik beschrieben wird, die heute Gegenstand kulturwissenschaftlicher Forschungen ist: Migration, TransferTransfer, inter- und transkulturelletranskulturell Beziehung in einer global gewordenen WeltWelt.
Zu dieser Entwicklung gehört auch, dass die Bedeutungen des Fremden wie auch des Eigenen im WandelWandel begriffen sind. Oft erweist sich das Fremde nämlich verdeckt als Teil des Eigenen: Dieser Ansatz wird von verschiedensten Denktraditionen – von der PsychoanalysePsychoanalyse über die PhänomenologiePhänomenologie bis zu den Cultural StudiesCultural Studies – verfolgt und verändert sowohl unser Verständnis jenes scheinbar so vertrackten Fremden, das sich dadurch bestimmt, dass es sich uns entzieht, als auch unsere Vorstellung des uns scheinbar so Vertrauten, dass sich durch die Amalgamierung mit FremdheitFremdheit plötzlich in ein Vexierbild unserer selbst verwandelt. In jedem Fall scheint es nicht angebracht, Fremdes und Eigenes, oder auch Fremde und HeimatHeimat als binäre Oppositionen zu begreifen, sondern als Pole einer unaufkündbaren RelationRelation und damit als Teil des kulturellen Prozesses, der sich Georg SimmelSimmel, Georg zufolge durch Wechselwirkungen wie VerbindenVerbinden und TrennenTrennen, durch EinschlussEinschluss und AusschlussAusschluss bestimmt.2 Mit diesem Verweis wird gleichzeitig deutlich, wie LiminalitätLiminalität und AlteritätAlterität miteinander verwoben sind. Denn ohne jene ausschließenden wie verbindenden Grenzformationen und -konstruktionen, ohne die Abhängigkeitsbeziehung von Fremdem und Eigenem, von ÖffnungÖffnung und SchließungSchließung und von wechselseitigem AustauschAustausch sind PhänomenePhänomen des Alteritären nicht denkbar. Was vom einzelnen aus betrachtet jenseits einer bestimmten, oftmals unsichtbaren GrenzeGrenze angesiedelt ist, das ist eben das Fremde, das jedoch so beweglich und veränderlich ist wie all jene GrenzprozedurenGrenzprozeduren, die SicherheitSicherheit und VerbindungVerbindung ermöglichen: vom persönlichen Augenschein über Öffnungsmodalitäten und Identitätsnachweise bis zu zeitlichen Beschränkungen, die Grenze zu überschreiten. Mit Simmel lassen sie sich als ein SystemSystem von Öffnungen und Schließungen ansehen. Der deutschedeutsch Philosoph und SoziologeSoziologe hat dieses Wechselspiel als charakteristisch für das Phänomen KulturKultur überhaupt gesehen. Simmel beschreibt den MenschenMensch kulturanthropologisch als „das verbindende Wesen […], das immer trennen muß und ohne zu trennen nicht verbinden kann […]“.3 Was ‚fremdfremd‘ und was ‚eigenEigenheit‘ ist, das ist in höchstem Maße kontextabhängig, das heißt von den jeweiligen Mustern des Teilens und Zusammenführens bestimmt. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung davon abhängig, wo ich mich befinde. Wenn ich mich etwa auf einem anderen Erdteil befinde, dann schmilzt meine binneneuropäische sprachliche oder ethnischeEthnie DifferenzDifferenz womöglich sehr schnell zusammen. Oder andersAndersheit ausgedrückt: Die Figur des Fremden widersetzt sich jedweder SubstanzialisierungSubstanzialisierung. Jeder und jede von uns kann in einer bestimmten Situation, Beziehung oder Konstellation zum Fremden bzw. zur Fremden werden. Kulturwissenschaftlich betrachtet, unterliegen Phänomene wie NäheNähe und DistanzDistanz kulturellen Gegebenheiten, die sich ungeachtet mannigfaltiger Festlegungsversuche nicht ein für allemal fixieren lassen.
Der französische Philosoph François JullienJullien, François hat in diesem Zusammenhang die komplexe Struktur eines dialektischenDialektik Umschlages von FremdheitFremdheit und ‚EigenheitEigenheit‘ am Beispiel des PhänomensPhänomen der IntimitätIntimität herausgearbeitet. Er unterscheidet zwei Bedeutungen des französischen Wortes intimeintim: den Abschluss des/der Einzelnen vor seiner/ihrer Umgebung und die VerbindungVerbindung mit einem anderen MenschenMensch, mit dem man einen gemeinsamen intimen ‚Raum‘ stiftet. Die ÖffnungÖffnung hin zum Anderen erfolgt aber genau in jener Zone, in die sich das IndividuumIndividuum zurückzieht.4
1.2. FormenForm des Alteritären
Diesem Buch liegt die Kernthese zugrunde, dass sich der Begriff des ‚Fremden‘ ebenso wie jener der ‚KulturKultur‘, mit dem er auf unkündbare Weise verbunden ist, nicht eindeutig definieren lässt. In diesem Zusammenhang wird im vorliegenden Werk auf verschiedene Bedeutungsschattierungen eingegangen, die für die KulturanalyseKulturanalyse von außerordentlichem Belang sind.
FremdheitFremdheit und EigenheitEigenheit funktionieren in diesem Verständnis nicht länger im Sinn eines Gegensatzes oder einer Gegenüberstellung, bleiben doch beide Termini stets aufeinander verwiesen. Im vorliegenden Buch wird deshalb der Begriff der AlteritätAlterität, der die Verknüpfung von Fremdheit und Eigenheit als Prozess und ErfahrungErfahrung in eins fasst, in den Vordergrund gerückt. Das von dem lateinischenlateinisch Adjektiv ‚alter‘ abgeleitete Substantiv, das sich auch als AndersheitAndersheit bezeichnen lässt, beschreibt die abstrakteste und zugleich philosophische FormForm von ‚Fremdheit‘, eine Form, die noch ganz ohne Prädikat auskommt. Die Alterität umfasst alle Formen eines Außerhalbs meiner SelbstSelbst, wobei dieses Andere auch durch die KonstitutionKonstitution und KonstruktionKonstruktion dieses Außerhalbs bestimmt wird. So lässt sich mit der PsychoanalysePsychoanalyse fragen, ob das ‚UnbewussteUnbewusste‘ etwas (in) mir Fremdes ist.
AlteritätAlterität umfasst also verschiedene, sich überlagernde Phänomenlagen. Ich möchte provisorisch drei benennen. Viele europäische SprachenSprache kennen diese Unterscheidungen und Nuancen, die keineswegs trennscharf sind und sich immer wieder irritierend überlagern. Aber in den germanischengermanisch wie in den romanischenromanisch und slawischenslawisch Sprachen wird, wie unscharf auch immer, zwischen dem/der AusländerAusländer (the foreigner), dem/der Fremden (the stranger) und dem/der Anderen (the other) unterschieden. Im Titel eines berühmten Lieds von Frank SinatraSinatra, Frank, ‚Strangers in the Night‘, lassen sich die strangers, die Fremden, nicht durch die Ausländer (foreigners) oder gar durch die Anderen (others) substituieren. Das LiebespaarLiebespaar, das hier besungen wird, ist einander so verheißungsvoll fremdfremd und unbekanntunbekannt wie dem männlichenmännlich lyrischen Ich die NachtNacht und die damit verbundenen KonnotationenKonnotation: ErosEros, DunkelheitDunkelheit, Unbewusstes, IntimitätIntimität, GrenzüberschreitungGrenzüberschreitung. Die beiden begegnen einander als Fremde an einem unbekannten OrtOrt.1
Im Begriff der Fremden schwingt ein Moment mit, wonach diese aus der Perspektive der Einheimischen als unbekanntunbekannt wahrgenommen werden. Sie lassen sich nicht wirklich einordnen, sie beinhalten ein Moment der Störung, wohl auch deshalb, weil sie sich innerhalb des ‚eigenenEigentum‘ Raums der ‚anderen‘ befinden. Im Deutschen wie in anderen SprachenSprache ist das Fremde mit dem Unbekannten (im TschechischenTschechisch ist der Unbekannte neznámy, im KroatischenKroatisch neznanac)2, ja sogar mit dem UnheimlichenUnheimliche, das verschwägert. Das Beunruhigende am Fremden ist also nicht nur, dass es nicht ‚zu uns‘ gehört, sondern, dass man nicht weiß, wohin es überhaupt gehört. Insofern negiert das Fremde den vertrauten Zustand der ‚HeimatHeimat‘.
Ungleich stärker als die beiden anderen Phänomenlagen von AndersheitAndersheit trägt das Fremde auch das Moment der IrritationIrritation und der FurchtFurcht mit bzw. in sich, das etwa durch die Betrachtung und Wahrnehmung von BehinderungBehinderung, KrankheitKrankheit oder deviantem AussehenAussehen (GesichtGesicht, KörperKörper, HaarfarbeHaarfarbe) ausgelöst wird. Diese FremdheitFremdheit ist asymmetrischAsymmetrie: Der kulturell ‚normalenormal‘ MenschMensch wehrt das als abweichend wahrgenommene Gegenüber ab, möchte ihm nicht gleichen und hat AngstAngst, er/sie könnte auch so krank oder entstellt werden wie das Vis-à-vis. Für den als befremdlich stigmatisierten Menschen kommt zur Last des ‚unheimlichenunheimlich‘, fremdenfremd LeidensLeiden oder der AbweichungAbweichung einer wie auch immer gearteter NormNorm, jene sozio-kulturelle MarginalisierungMarginalisierung, die sich durch die negative FixierungFixierung von Krankheit, Behinderung und physischer Devianz ergibt. Nirgends tritt der radikale AusschlussmechanismusAusschlussmechanismus so drastisch zutage wie in diesem Fall. Es ist kein Zufall, dass sich der RassismusRassismus jedweder Couleur an körperlicher DifferenzDifferenz entzündet hat.
Ausländisch – das Adjektiv