Qumran. Daniel Stökl Ben Ezra

Qumran - Daniel Stökl Ben Ezra


Скачать книгу
Gruppe identifizieren. Andere sehen in den Chasidäern einen Vorläufer der Essener. Sie berufen sich dabei auf eine der vielen verschiedenen Etymologien für den Namen „Essener“ von aramäisch chasin („fromm“). Beides, Essener und Hasidäer, würde |77|demnach „fromm“ bedeuten und daher die gleiche Gruppe bezeichnen. Fakt ist, dass wir fast nichts von den Hasidäern wissen und dass „fromm“ ein weit verbreitetes Eponym ist. Auch die rabbinische Literatur kennt chasidim (mAv 5,4.13; mBer 5,1; mSuk 5,4; mSot 9,15; mHag 2,17). Doch haben diese chasidim nichts mit den asidaioi der Makkabäerbücher zu tun. Vielmehr handelt es sich um einzelne besonders fromme Figuren. Auch ob sie mit den chasidim einiger Psalmen identisch sind, ist wegen der allgemeinen Bedeutung dieses Wortes ungewiss. (Und natürlich haben die Chasidäer der Makkabäerbücher und der rabbinischen Quellen nichts mit den Chasidim des Mittelalters oder der frühen Neuzeit und Gegenwart zu tun). Die jüngere Forschung lehnt daher in der Mehrzahl die Verbindungen zwischen den Chasidäern der makkabäischen Zeit und den Besitzern der in Qumran gefundenen Bibliothek als zu spekulativ ab. Drei beiläufige Erwähnungen sind zu wenig, um darauf ein Fundament zu bauen. Um Verwechslungen zu vermeiden, sollte die in den griechischen Quellen erwähnte Gruppe besser Chasidäer genannt werden.

      Die EssenerEssener werden am häufigsten mit den antiken Besitzern der Qumranrollen identifiziert. Die griechischen Quellen nennen sie essaioi oder essēnoi. Verschiedene Etymologien versuchen diese (ungriechischen) Namen aus dem Semitischen herzuleiten: Schon genannt wurde aramäisch chasin, chasaiai, d.h. „die Frommen“ (vgl. oben Chasidäer). Philons Ableitung von hosiotes (Heiligkeit) wird als fehlverstandenes chasid oder chasin erklärt (Quod omnis 75). Vermes hat aramäisch asaiai, d.h. „die Heiler“ vorgeschlagen. Einige antike Quellen betonen tatsächlich die besonderen Heilkünste der Essener (BJ 2,136; Taylor). Eine verbreitete Ableitung ist von hebräisch asa, wörtlich „machen“, als Abkürzung von osei hatora „die die Tora (richtig) in die Tat umsetzen“ (1QpHab VII 11; 4Q171 1–2 ii 14 u.ö.). Letztlich kann die Frage in der gegenwärtigen Quellenlage nicht mit ausreichender Sicherheit geklärt werden.

      Der römische Gelehrte Plinius der ÄlterePlinius der Ältere (ca. 23–79 n. Chr.) beschreibt in seiner Naturgeschichte 77 n. Chr. die Landschaften der ihm bekannten Welt. Das fünfte Buch behandelt u.a. Ägypten, Syrien und dann auch Judäa, zunächst die Ortschaften um den See Genezareth, dann das Tote Meer. Hieran schließt sich folgende berühmte Passage an:

      Im Westen meiden die Essener das Ufer (des Toten Meeres), soweit es schädlich ist. Es handelt sich um ein Volk, das für sich alleine lebt und seltsamer ist als sonst irgendeines auf der ganzen Welt: ganz ohne Frauen, losgelöst von jedem Liebesgenuss, ohne Geld, in Gesellschaft von Palmen. Es erneuert sich jeden Tag gleichmäßig durch einen Haufen von Ankömmlingen. In großer Zahl kommen Lebensmüde, die das Schicksal mit seinen Schwankungen zu ihren Sitten führt. So existiert über unzählige Generationen – unglaublich! – ein ewiges Volk, in dem niemand zur Welt kommt. So fruchtbar ist für jene der Lebensüberdruss anderer! Unterhalb ihres Gebiets (infra hos: unterhalb von ihnen) lag die Stadt Engada, bezüglich Fruchtbarkeit und Palmenhainen nur von Jerusalem übertroffen, heute aber ebenfalls Schutt und Asche. Von da kommt man zur Felsenfestung Masada, auch nicht weit vom Asphaltsee. Und so weit reicht Judäa. (Plinius, Hist. nat. 5,73, Üb. René Bloch)

      Mit dieser etwas umständlichen Formulierung verortet Plinius die Essener im Gegensatz zu den anderen Quellen in einer spezifischen Region Judäas, und zwar im Westen des Toten Meeres, genauer gesagt: im Nordwesten. Manch einer hat versucht zu behaupten, infra hos (unter ihnen) sei in der Hinsicht zu verstehen, dass die Essener physisch über Ein Gedi oben auf dem Felsen gewohnt hätten (besonders Hirschfeld, der dort auch Ausgrabungen durchgeführt hat). Der Sprachgebrauch von Plinius zeigt jedoch, dass die Präposition infra bei ihm normalerweise „stromabwärts“ heißt. Es ist diese Übersetzung, die hier angewendet werden muss, denn Plinius folgt in seiner Beschreibung erst dem Jordan flussabwärts und dann der Westküste des Toten Meeres bis Masada, dem südlichsten Ort Judäas.

      Plinius war nie selbst am Toten Meer und muss sein Wissen aus einer wohl mündlichen Quelle geschöpft haben. Seine Bezeichnung der Essener als „Volk“ oder „Stamm“ (gens) ohne explizite Verbindung mit dem Judentum zeugt nicht von tiefem Verständnis. Sicher existierten die Essener nicht seit tausenden von Jahrhunderten und natürlich ist auch nicht Jerusalem die palmenreiche Stadt, sondern Jericho. Immerhin stimmen die Details bezüglich der Enthaltsamkeit und Armut grob mit Philon und Josephus überein. Wenn er |79|die Essener auf die Nordwestseite des Toten Meeres einschränkt, so liegt dies vielleicht schlicht am Fortgang seiner geographischen Beschreibung und an seinem Wunsch, seinen Lesern dieses Kuriosum nicht vorzuenthalten.

      Eine spezielle Konzentration von Essenern an der Nordwestecke des Toten Meeres wird von einer zweiten indirekten Tradition bestätigt. Der christliche Rhetor Synesios (ca. 373–414) verfasste eine Lobrede auf den antiken Rhetor Dio ChrysostomosDio Chrysostomos (40–115), worin er dessen Aussagen zu den Essenern erwähnt (GLAJJ, Bd. 2,118f), welche am Toten Meer leben sollen. Diese Passage gilt heute als von Plinius unabhängig und authentisch, da das Vokabular und zentrale Details nicht mit Plinius übereinstimmen (Taylor).

      Wichtigste und ausführlichste Quelle ist schließlich JosephusJosephus. Essener erhalten bei ihm weitaus mehr Aufmerksamkeit als die beiden anderen Gruppen der Pharisäer und Sadduzäer (BJ 2,119–166, davon 119–161 Essener) – wohl auch, weil wie bei Plinius ihre Andersartigkeit die Neugier römischer Leser fesseln soll. Der Abschnitt ist leider zu lang, um ihn hier vollständig zu zitieren (für ausführliche Kommentare vgl. Beall, Bergmeier, Vermes-Goodman und Adam). Josephus bestätigt viele Details von Philon, fügt einige hinzu (Vermeidung von Öl als Quelle von Unreinheit; spezielle weiße Kleidung für Gebete und Gemeinschaftsmahle; Gebet vor Sonnenaufgang und am Abend um fünf; Gemeinschaftsmahl nur für Mitglieder der Gemeinschaft nach einem Reinigungsbad; Tischgebet durch einen Priester vor und nach dem Mahl; Exkremente werden mit einer Hacke vergraben und so vor der Sonne verborgen; danach folgt eine Waschung; Spucken ist ihnen verboten; sie kochen nicht am Schabbat und verrichten an ihm keinen Stuhlgang; sie haben spezielle Kenntnisse in Heilkunde und die Gabe der Prophetie) und widerspricht anderen (sie wohnen in Städten; tragen Waffen auf Reisen). Josephus schließt seinen Exkurs mit einem Hinweis auf einen zweiter Essenerordenzweiten Essenerorden (griech. tagma), der im Gegensatz zum ersten Heirat und Prokreation erlaubt (BJ 2,160). In seiner Autobiographie behauptet Josephus, er habe das essenische Leben selbst ausprobiert (Vit. 1,10–11). Auch wenn er zahlreiche Details des Aufnahmeprozesses zu kennen scheint, ist dies jedoch höchst unsicher.

      Viele dieser halakhischen und theologischen Charakteristika passen erstaunlich genau mit Details der jachadischen Gemeinschaftsregel aus Qumran zusammen (s.u. Kapitel 13.2). Selbst wenn wir auf die Allgemeinplätze wie Korpsgeist, rituelle Reinigungen, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gelehrtheit usw., die auch auf viele andere Gruppen zutreffen, verzichten, bleiben u.a. folgende spezifische Gemeinsamkeiten:


Скачать книгу
Librs.Net
|80|Gemeinsamkeiten in Essenerbeschreibungen zwischen 1QS und hellenistischen Quellen:
1) stufenweiser Aufnahmeprozess, der stufenweise Zulassung zu Speise und Trank der Gemeinschaft regelt (1QS VI 13–23; BJ 2,137f)
2)