Qumran. Daniel Stökl Ben Ezra
Michael, Ancient Judaism. New Visions and Views, Grand Rapids 2011.
Sussman, Yaakov, „The History of Halakah and the Dead Sea Scrolls – a Preliminary to the Publication of 4QMMT“, Tarbitz 59 (1990) 11–76 (hebr.).
Nach dem kurzen Geschichtsabriss im vorigen Kapitel, der nur einen ganz groben Überblick über eine Auswahl politischer Ereignisse und Herrschaftsverhältnisse darstellen kann, wenden wir uns nun den erwähnten religiösen Bewegungen zu. Insbesonders werden wir die Möglichkeiten diskutieren, einer Gruppe die eine oder andere Schriftrolle zuzuordnen. Mindestens drei grundsätzliche methodologische Bemerkungengrundsätzliche methodologische Bemerkungen müssen dabei vorausgeschickt werden. Erstens erlaubt uns die Quellenlage nur eine sehr schemenhafte Einsicht in die Religionssoziologie jener Zeit. Zweitens ist auch das Wenige, das berichtet wird, chronologisch |74|sehr ungleichmäßig verteilt. Drittens stehen wir vor der üblichen historischen Crux, bei Detailunterschieden nicht immer zu wissen, ob zwei ähnlich titulierte Gruppen identisch sind. Dann darf man keinesfalls schließen, dass jeder einzelne Jude immer zwangsläufig genau einer Richtung angehörte. Die große Mehrheit wird, wie heutzutage auch, nicht formell Mitglied einer Gruppe gewesen sein. Sicher haben die Gruppen im Laufe ihrer Geschichte ihre Ansichten, Regeln und Strukturen auch verändert und es gab lokale Unterschiede. Schließlich ist es ein Trugschluss pauschal vorauszusetzen, die genannten Gruppierungen definierten sich auf analogen Ebenen. Sekte, Partei, Schule, Gruppe, Bewegung, Strömung, Verein sind völlig unterschiedliche Organisationsformen (s.u. Kapitel 14).
Bis zur Entdeckung Qumrans dienten fünf Textkorpora als HauptquellenHauptquellen für die Religionssoziologie Judaäs: Josephus, die Pseudepigraphen, das Neue Testament, Philon und die frühe rabbinische Literatur, die in der Folge kurz vorgestellt werden. Basis war unweigerlich JosephusJosephus, Jerusalemer Priester hasmonäischer Abstammung (gest. um 100 n. Chr. in Rom), mit seinen zwei großen und zwei kürzeren Werken: den sieben Büchern des Jüdischen Kriegs (BJ = de bello Judaico, geschrieben ca. 75–79) und den zwanzig Büchern der Jüdischen Altertümer (Ant. Iud. = Antiquitates Iudaicae, verfasst vor 94 n. Chr.), der für Qumran wichtigen Autobiographie (Vita, verfasst ca. 96, wohl als Appendix zu Ant. Iud.) und schließlich seiner Apologie gegen Apion (C. Ap.).
Josephus hat klare apologetische Interessen und möchte nach dem jüdischen Krieg das Judentum in den Augen nichtjüdischer – und jüdischer – Leser rehabilitieren. Er teilt die jüdische Gesellschaft für seine griechischen Leser in drei („philosophische“) Parteien auf: Pharisäer, Sadduzäer und Essener (Ant. Iud. 3,171–173; BJ 2,119–166). An anderer Stelle fügt er eine vierte unbezeichnet gelassene Partei hinzu (Ant. Iud. 18,9–23). Doch können wir schon aus Josephus selbst lernen, dass die Zahl der Gruppen wesentlich größer war als drei oder vier (Porton), erwähnt er doch selbst schon die unterschiedlichsten eschatologischen Gruppierungen, Zeloten, Sikarier, aber auch Anhänger von Johannes dem Täufer oder Jesus. Andere Quellen kennen noch weitere Gruppennamen und eine (späte) rabbinische Quelle nennt eine erstaunlich hohe Zahl: „Rabbi Jochanan sagte: Die Israeliten wurden erst vertrieben, als 24 häretische Sekten entstanden waren“ (ySan 29c).
Es folgen die sogenannten PseudepigraphenPseudepigraphen. Dieser moderne Begriff bezeichnet gewöhnlicherweise alle antiken jüdischen Schriften, die nicht der Hebräischen Bibel, der Septuaginta oder den anderen hier genannten Corpora zugerechnet werden können, also |75|beispielsweise der Aristeasbrief, der 2. Henoch, die Baruchbücher oder die Testamente der Zwölf Patriarchen (auf deutsch gesammelt in der Reihe Jüdische Schriften aus Hellenistisch-Römischer Zeit = JSHRZ). Früher wurde oft versucht, jede dieser Schriften einer der bei Josephus genannten Gruppen zuzuordnen. Dies erwies sich aber als unmöglich. Andersherum kann man nicht einfach hinter jedem dieser Texte eine andere Gruppe rekonstruieren.
Neben Josephus und den Pseudepigraphen ist das Neues TestamentNeue Testament eine Hauptquelle. Seine unterschiedlichen Schriften erwähnen neben den Anhängern Jesu und Johannes des Täufers bekannterweise Pharisäer und Sadduzäer sowie Herodianer, Schriftgelehrte, aber keine Essener. Der meist polemische Kontext gibt nichts über die Herkunft und wenig über die soziale Verortung von Pharisäern und Sadduzäern her. Jesus und seine Gruppe steht den Pharisäern näher als den Sadduzäern.
Vierte Quelle ist der jüdische Philosoph Philon von AlexandrienPhilon von Alexandrien (in Ägypten), der als Zeitgenosse von Paulus von ca. 20 v. Chr. bis ca. 50 n. Chr. lebte und Abkömmling einer der etablierten Familien seiner Stadt und vielleicht wie Josephus auch ein Priester war. In seinen meist exegetischen oder philosophischen Schriften berichtet er nur ausnahmsweise über jüdische Gruppen in Ägypten (Therapeuten: Vit. Cont.; „extreme Allegoristen“: Migr. 89–94) und in Judäa (Essener: Prob. 75–91; Vit. Cont. 11), aber z.B. weder über die Pharisäer noch über die Sadduzäer.
Die letzte Hauptquelle ist die frühe rabbinische Literaturrabbinische Literatur der sogenannten tannaitischen Periode (von tanna = aram. „Repetitor“) bis zum dritten Jahrhundert. Zur tannaitischen Literatur gehören die beiden juristischen Korpora Mischna und Tosefta und die halakhischen Midraschim zu den Büchern Exodus, Levitikus, Numeri und Deuteronomium. Zur späten „amoräischen“ Phase gehören zwei große Kommentare zur Mischna, d.h. der palästinische und der babylonische Talmud, sowie eine große Gruppe eher erbaulich orientierter („aggadischer“) Midraschim. Im Gegensatz zu Josephus und zum Neuen Testament sind diese Quellen wesentlich später redigiert, lange nur mündlich überliefert und noch viel später schriftlich festgehalten worden. Einige besonders interessante Stellen sind textlich verderbt, da die jüdischen Autoren durch Selbstzensur christlichen Zensoren zuvorkommen wollten, die möglicherweise bestimmte Gruppenbezeichnungen auf Christen beziehen und radikalere Änderungen fordern konnten. So heißen viele Gruppen einfach nur minim. Viele Forscher setzen die rabbinischen Autoren mit den Pharisäern gleich (dazu s.u.). An einigen wenigen Stellen ist von Sadduzäern (tzeduqim) die Rede. Essener werden nicht erwähnt, aber eine bet boetus (vielleicht „Haus des |76|Boethus?“) genannte Gruppe. Schließlich sind die chaverim und die chasidim zu nennen.
Jede dieser Quellen hat ihren eigenen Blickwinkel. Abgesehen von Josephus will keine Quelle eine Beschreibung „des“ Judentums geben, noch nennt sie alle drei Hauptgruppierungen. Philon erwähnt weder Pharisäer noch Sadduzäer, aber Essener (sowie die ägyptischen Gruppen der Therapeuten und der extremen Allegoristen). Das Neue Testament und die rabbinische Literatur kennen Sadduzäer und Pharisäer, aber keine Essener. Ersteres ist nur an den Gruppierungen interessiert, mit denen Jesus und seine Nachfolger nennenswerte Begegnungen hatten. Die Rabbinen haben an Nicht-Rabbinischem nur dann Interesse, wenn daraus Halakha abgeleitet werden kann (Goodman).
Eine ChasidäerChasidäer genannte Gruppe wird dreimal in erhaltenen antiken Quellen erwähnt (Kampen). Nachdem diese drei Stellen lange Zeit als Fundament für weitreichende Theorien zu den Wurzeln der Pharisäer oder der Essener gedient haben, ist man demgegenüber heute sehr vorsichtig geworden. Die Chasidäer werden griechisch als asidaioi bezeichnet, was von chasid, „fromm“ (aram. pl. chasidaija) abstammt. Zunächst erwähnt 1. Makk. 2,42 die Chasidäer im Kontext der Revolte gegen Antiochos IV. Sie seien eine besonders Tora-obsevante Gruppe, die sich – mit tragischem Resultat – weigert, am Schabbat zu den Waffen zu greifen. Allerdings ist diese Stelle textlich höchst unsicher. In der nächsten Stelle (1. Makk. 7,12–14) gelten sie als besonders friedliebend und kompromissbereit, werden aber hinterhältig vom Hohepriester Alkimos überlistet. Eine dritte Erwähnung wird in 2. Makk 14,6 dem Hohepriester Alkimos selbst in den Mund gelegt. Nach ihm soll Judas Makkabäus die streitbaren Chasidäer sogar anführen. Davon wissen wir aber sonst überhaupt nichts, und nach 1. Makk. 7,10f ist klar, dass Judas Makkabäus nicht zu ihnen gehört, (Schwartz 471). Diese widersprüchlichen Bruchstücke sind schon alles, was wir aus zeitnahen Quellen über sie hören.
Einige Forscher halten die Chasidäer für einen Vorläufer der Pharisäer. Zur Begründung wird auf eine Passage in den Psalmen Salomos verwiesen, die normalerweise als pharisäisch angesehen werden. Sie erwähnt als positive