Geschichte der deutschen Literatur. Band 2. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 2 - Gottfried Willems


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unmittelbar erreicht werden könnte, daß es uns Heutigen schon recht nahe wäre.

      Literatur- und Kulturgeschichte, Kontextwissen und Literaturverständnis

      So muß es in dieser Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts zunächst darum gehen zu sichten, was es hier überhaupt an Literatur gibt und wie sie beschaffen ist, wer da alles geschrieben hat, für wen und warum, aus welchen Antrieben heraus, mit welchen Absichten und Zielen. Das kann freilich kaum gelingen, ohne zugleich nach dem literarischen Leben der Zeit zu fragen, als dem Raum, in dem sich der Austausch von Autoren und Lesern vollzogen hat, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, was die Basis des literarischen Lebens in der Gesellschaft war, welche Schichten und Gruppen es getragen haben, wie es in der Kultur der Zeit verankert war und in welchen Formen es sich unter diesen Voraussetzungen entfaltet hat. Daß hierbei die Autoren und Werke von besonderem Interesse sind, die die Menschen seinerzeit besonders intensiv beschäftigt haben und die von daher in den Kanon der literarischen Überlieferung, in das kulturelle Gedächtnis eingegangen sind, versteht sich von selbst.

      Dem allem ist natürlich mit dem bloßen Sichten und Zusammentragen von Fakten noch nicht gedient. Worauf es bei einer Einführung wie dieser vor allem ankommt, das ist, dafür zu sorgen, daß die literarischen Texte des 18. Jahrhunderts dann auch wirklich zu einem heutigen Leser sprechen können; daß er die Texte verstehen kann, daß er sich erschließen kann, was sie uns Menschen von heute womöglich noch immer zu sagen haben. Denn alles Sammeln von Informationen über die Literatur des 18. Jahrhunderts macht ja nur insofern Sinn, als man mit ihr am Ende wirklich ins Gespräch kommt.

      Das erfordert aber einiges an Vorarbeit. Denn natürlich ist uns diese Literatur nach den zwei-, dreihundert Jahren, die seither vergangen sind, in vielem fern gerückt, fern vielfach schon von der Sprache her, die sie spricht, und erst recht durch das, was sie an Vorstellungen kultiviert; durch das Wissen, mit dem sie arbeitet, durch die Sachen, die sie zur Sprache bringt, und durch die Begriffe und Wertvorstellungen, mit denen sie an diese Sachen herangeht. Es gilt also, sich auch in der Kultur dieser so fern gerückten Epoche umzusehen, zu fragen, wie die

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      Menschen damals gelebt haben, was sie gewußt und gedacht haben, wie sie ihre Welt und sich selbst gesehen haben. Nur in dem Maße, in dem sich ein solches Wissen heranbildet, als kulturgeschichtliches Kontextwissen, das ihre Texte erschließt, nur in dem Maße, in dem es gelingt, die geschichtlichen Barrieren auszuräumen, die ihrem Verständnis im Wege stehen, wird ihre Literatur wirklich zu uns sprechen, und darauf muß es hier vor allem ankommen.

      Das aber heißt, daß es im folgenden – anders als man es vielleicht von einer Einführung erwarten mag – nicht darum gehen wird, möglichst viele der Namen und Werke zu benennen, die in den Literaturgeschichten unter der Rubrik 18. Jahrhundert aufgeführt werden. Darüber kann man sich unschwer in den probaten Nachschlagewerken informieren, in Literaturgeschichten, Handbüchern, Fachlexika und Forschungsberichten. Vielmehr soll vor allem versucht werden, einen Zugang zu dem zu eröffnen, was die Literatur des 18. Jahrhunderts „im Innersten bewegt“, was in ihr an Fragen aufgegriffen und an Problemen ausgetragen wird.

      Was hier auf den Leser zukommt, ist mithin so etwas wie eine kulturgeschichtlich fundierte Geschichte der Literatur des 18. Jahrhunderts. Es könnte aber genausogut eine literaturgeschichtlich fundierte Geschichte der Kultur des 18. Jahrhunderts heißen. Denn wie die Beschäftigung mit der Kultur des 18. Jahrhunderts die Literatur der Zeit aufschließen soll, so die Beschäftigung mit dieser Literatur die zeitgenössische Kultur. Beides, Textkenntnis und Kontextwissen, sind die zwei Seiten einer Medaille, beides kann nur zugleich in Angriff genommen werden. Indem wir uns in der Kultur des 18. Jahrhunderts umsehen, erschließt sich seine Literatur unserem Verständnis. Und indem wir uns mit dieser Literatur auseinandersetzen, wird sie für uns zu einem Fenster in die Welt des 18. Jahrhunderts.

      Literatur als Zugang zu Identität und Alterität

      Literatur ist für den lesenden Menschen ja immer beides zugleich: ein Spiegel und ein Fenster; ein Spiegel, in dem er sich selbst bespiegelt, und ein Fenster, durch das er andere und anderes zu sehen bekommt; ein Spiegel, in dem er seiner selbst, seines eigenen Lebens und seiner eigenen Welt ansichtig wird, und ein Fenster, durch das er nach anderen und anderem Ausschau hält, Einblick in das Leben anderer Menschen bekommt, Einblick in fremdes Leben, in fremde Welten. Mit wissenschaftlicher Ambition gesagt: lesend sind wir stets

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      auf der Spur der eigenen Identität und auf dem Weg zur Alterität, beides in einem.

      Das gilt übrigens für jede Form von historischen Studien, für jedes Interesse an früheren Zeiten. Warum beschäftigt sich der Historiker mit der Vergangenheit, warum der Literarhistoriker zum Beispiel mit der Welt des 18. Jahrhunderts? Vor allem aus zwei Gründen. Zum einen weil er wissen will, wie das geworden ist, was heute ist, wie sich die Verhältnisse herangebildet haben, unter denen wir heute leben – womit sich stets die Hoffnung verbindet, das, was heute ist, genauer sehen und besser verstehen zu können. Das ist das genetische Interesse an der Geschichte, das Interesse an der Genese der heutigen Verhältnisse. Und zum anderen will er, wenn er in die Geschichte zurückblickt, Verhältnisse kennenlernen, die anders sind als heute, will er die heutigen Verhältnisse, die uns so selbstverständlich, ja vielfach nur allzu selbstverständlich sind, mit anderen Verhältnissen kontrastieren und so auf Distanz stellen, will er sich ein Bewußtsein davon geben, daß alles auch ganz anders sein könnte als heute und schon einmal anders gewesen ist. Das ist das kontrastive Interesse an der Geschichte. Das genetische Interesse zielt auf Identität, das kontrastive Interesse auf Alterität. Und auch hier gilt, daß man beide Interessen nur in einem verfolgen kann.

      Das 18. Jahrhundert ist nun sowohl für das genetische als auch für das kontrastive Interesse, sowohl für Identitäts- als auch für Alteritätsfragen besonders aufschlußreich, insofern es sich bei ihm um eine „Sattelzeit“ handelt, um die Zeit, in der sich die Genese der modernen Welt vollzogen hat. Die meisten der großen und kleinen Schritte, die damals in Richtung auf die modernen Verhältnisse zu unternommen worden sind, kristallisieren sich aber um einen einzigen Begriff: um den der Aufklärung. Das 18. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Aufklärung. Von dieser Aufklärung hat man sich also zunächst und vor allem Rechenschaft zu geben, wenn man in die Literatur der Zeit eindringen will. Und so sei als erstes versucht, sich hiervon einen Begriff zu machen, einen ersten Begriff, einen Vorbegriff, der sich dann bei der Auseinandersetzung mit den Zeugnissen des 18. Jahrhunderts zu bewähren und zu bestätigen hat.

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      Aufklärung als Modernisierung

      Was man im Rückblick auf das 18. Jahrhundert Aufklärung genannt hat, war eine große geschichtliche Bewegung, die sich eine Reform aller menschlichen Dinge auf die Fahnen geschrieben hatte, eine Reform der gesamten Kultur von den Formen, in denen sich das mensch­liche Denken und Wissen organisiert, über die Strukturen, in denen der Einzelne lebt, arbeitet und sich mit anderen austauscht, bis hin zur Organisation der Gesellschaft als ganzer, und die damit in der Tat nach und nach alle Bezirke des menschlichen Lebens erreichte und durchdrang.

      Vorangetrieben wurde sie von einer durchaus überschaubaren gesellschaftlichen Gruppe, die sich eben damals neu formierte und die man heute die Intellektuellen nennt. Sie selbst und ihre Zeitgenossen hatten für sie allerdings noch einen anderen Namen; sie sprachen von ihr als von den „Philosophen“. Wie ihre Vorgänger, die frühneuzeitlichen Zirkel gelehrter Humanisten, war die Gruppe der „Philosophen“ bereits bestens vernetzt, standen alle, die ihr angehörten, in einem Austausch, der so eng und intensiv war, wie ihn die Verkehrsformen der Zeit nur irgend zuließen. Anders als die Humanistenzirkel bestand sie freilich nicht nur aus der Elite der Gelehrsamkeit, aus Theologen, Philosophen, Philologen und anderen Vertretern einer gelehrten Bildung, sondern auch aus interessierten Laien, aus Literaten, Publizisten, Pädagogen, höheren Beamten und all den anderen „Standespersonen“, die sich die Bildung der Bevölkerung und die Entwicklung der Gesellschaft zur Aufgabe machten. Die Intellektuellen haben die Aufklärung gemacht, und die Aufklärung hat die Intellektuellen


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