Geschichte der deutschen Literatur. Band 2. Gottfried Willems
man sie mehr und mehr als Gegenbilder, denen man etwas anderes, etwas spezifisch Modernes gegenüberstellen wollte, und mancherorts hat man sich auch vollständig von ihnen zu lösen versucht.
Also eine fortschreitende Säkularisation, eine permanente „Querelle des Anciens et des Modernes“, aber keineswegs so, daß man das christliche und das antike Erbe gänzlich aus dem Blick hätte entfernen wollen. Man wollte sich nicht von diesen Überlieferungen, sondern nur von ihrer Autorität lösen, von den autoritativen, bindenden Ansprüchen, die damit in der frühen Neuzeit verknüpft waren. Zu einer programmatischen Absage nicht nur an die autoritativen Ansprüche von Tradition, sondern an die Tradition selbst und an das Tradierte überhaupt kommt es erst am Ende des 19. Jahrhunderts, an der Schwelle zur Moderne im engeren Sinne, bei den ersten programmatischen Avantgardisten; derlei findet sich im 18. Jahrhundert noch kaum.
Kritik an der „Schrift“
Was die Aufklärer dementsprechend vor allem kritisieren, ist die Form, in der das christliche Erbe und das antike Erbe ihre Autorität zur Geltung bringen, sind Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit.
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Die christliche Religion fußt ja auf einem Buch, auf der Bibel, der „Heiligen Schrift“; diese soll alles Wesentliche und Wahre enthalten, so daß hier eine Schriftkenntnis und Schriftgläubigkeit, die von Schriftgelehrten verwaltet wird, zur Basis des religiösen Lebens geworden ist. Hinzu treten in der christlichen Tradition weitere altehrwürdige Bücher, vor allem die Schriften der Kirchenväter, die „Patristik“. In eben dieser Haltung haben sich die frühmodernen Humanisten, die ja zunächst einmal Christen und insofern Kinder einer schriftgläubigen Kultur waren, dann auch dem Erbe der Antike genähert. Der Antike wollten sie vor allem in den Schriften begegnen, die sich von ihr erhalten hatten, und diese Schriften hatten für sie einen ähnlichen Stellenwert, eine ähnliche Autorität wie die Bibel und die Kirchenväter, so daß sie die Kultur der Antike, die Wissenschaft und die Kunst, um nicht zu sagen: den Geist der Antike als Buchgelehrte, als Schriftgelehrte, als Philologen in den Formen der Schriftkenntnis und der Schriftgläubigkeit meinten haben zu können.
Dagegen machen die Aufklärer Front, so sehr sie selbst als Intellektuelle auch mit Büchern leben, selbst immerzu mit Lesen und Schreiben beschäftigt sind. Was die Aufklärer des 18. Jahrhunderts von den christlichen Theologen und den Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem trennt, ist ihre Absage an Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit. Bücher sind für sie nur Hilfsmittel; worauf es ihnen vor allem ankommt, ist das, was im wirklichen Leben geschieht, oder, wie sie selbst lieber sagen, was in der „lebendigen Natur“ vor sich geht, was „natürlich“ ist. In dem berühmtesten Werk von Lessing, dem „dramatischen Gedicht“ „Nathan der Weise“, von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll, heißt es einmal von Nathan, daß er „die kalte Buchgelehrsamkeit“ nicht liebe, „die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt“ (LN V, 382 –385); das ist typisch. Demgemäß suchen die Aufklärer Gott weniger in der Bibel als in der „lebendigen Natur“ und suchen sie Wissenschaft und Kunst weniger in den Schriften der Alten als in eben dieser Natur.
Die Kritik an der Buchgelehrsamkeit und am Buchgelehrten ist gerade für die Literatur ein dankbares Feld gewesen. Es gibt kaum ein Werk von Bedeutung im 18. Jahrhundert, das nicht an irgendeiner Stelle zur Gelehrtensatire wird und sich über die Verstiegenheit
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und Weltfremdheit des bloßen Buchgelehrten lustig macht.2 Damit setzt man sich von der Literatur der frühen Neuzeit ab, die, jedenfalls soweit sie vom Humanismus geprägt war, eine gelehrte Dichtung, eine Gelehrtendichtung war, ja deren literarische Texte oftmals mit Fußnoten und Quellenbelegen versehen sind wie eine wissenschaftliche Abhandlung. Auch wenn die Aufklärer von ihrem Bildungsgang her gelehrte Humanisten sind, wollen sie doch keine Gelehrtendichtung mehr fabrizieren, wollen sie anders schreiben, „natürlicher“ schreiben, und das machen sie eben mit den Mitteln der Gelehrtensatire deutlich. Wie die Humanisten einen Kampf gegen die Unbildung geführt haben, so kämpfen die Aufklärer nun gegen die Überbildung.
Abkehr vom Rationalismus,„Naturalismus“
Damit ist ein weiteres wichtiges Stichwort gefallen: Natur. Keinen Begriff haben die Aufklärer häufiger im Mund geführt als den der Natur. Er ist für sie wichtiger als der Begriff, der von den Nachgeborenen bis heute vor allem mit ihren Bestrebungen verknüpft wird, als der Begriff der Vernunft. Von den ersten Kritikern der Aufklärung bis in die heutige Wissenschaft hinein, bis hin zur modernen Literaturgeschichtsschreibung hat sich ja die Vorstellung festgesetzt, die Aufklärung habe eine Art Kult der Vernunft, der „ratio“ veranstaltet, sie habe einem selbstherrlichen Rationalismus, einem „Logozentrismus“ gehuldigt, sie habe sich der Vernunft geradezu im Sinne einer „Totalitätsobsession“ verschrieben gehabt. Die Aufklärer hätten geglaubt, daß die menschliche ratio alles erklären und alles regeln, alles in den Griff bekommen könne, von der Natur über die Gesellschaft bis hin zum Leben des Einzelnen.
Unterwerfung der Natur, Unterwerfung der natürlichen Triebe des Menschen unter die ratio, ein rational kontrolliertes Leben, ein rational veranstalteter Fortschritt, und in diesem Sinne Vervollkommnung des Einzelnen wie der Gesellschaft, „Perfektibilität“, Fortschritts- und Geschichtsoptimismus – das sind bis heute beliebte Stichworte, wo es um die Aufklärung geht.3 Von der ratio her habe man am Glück der Menschheit arbeiten wollen, an allen Abgründen des Menschen
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und allen Abgründen der Geschichte vorbei. So kann man es etwa in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen, und bei ihnen hat sich gerade die Germanistik in den letzten Jahrzehnten immer wieder über das 18. Jahrhundert belehren wollen.
Aber Adorno und Horkheimer haben nur wenig vom 18. Jahrhundert verstanden; sie sprechen, wo sie die Aufklärung in den Blick nehmen, im Grunde von der positivistischen Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren weniger Rationalisten als vielmehr „Naturalisten“. Wenn sie denn überhaupt einen Kult betrieben haben, dann war das ein Kult der Natur und kein Kult der Vernunft. Wo immer sie zur Sache kommen, wo immer sie auf das zu sprechen kommen, was für sie das Wesentliche ist, da erscheint in ihren Texten an zentraler Stelle der Begriff der Natur, und auch wo es nicht um Wesentliches geht, bei allem und jedem heißt es bei ihnen: Natur, Natur, Natur!4 So haben sie sich zum Beispiel in der Theologie um natürliche Gottesbegriffe bemüht, in der Philosophie um die allgemeine Menschennatur und um eine natürliche Ethik, in der Wissenschaft um die Naturerkenntnis, im staatlichen Leben um die Geltung des Naturrechts, und in der Kunst und Literatur um das Prinzip der Naturnachahmung, der imitatio naturae, der mimesis. Die Dichtung sollte nun weniger Kunst sein – Kunst im Sinne von Künstlichkeit – als vielmehr etwas Natürliches, sie sollte irgendwie „Naturpoesie“ sein.
Und die Natur steht für die Aufklärer eben über der menschlichen Vernunft, sie übersteigt für sie immer schon die Möglichkeiten der Vernunft. In diesem Sinne haben sie durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch an einer Kritik der Vernunft gearbeitet, wie sie Kant dann gegen Ende des Jahrhunderts in seinen großen Kritiken zusammenfaßt, haben sie sich überall darum bemüht, der Vernunft ihre Grenzen aufzuzeigen, zumal dort, wo sie sich zu großen „Systemen“ versteigt, die das Ganze der Welt erklären wollen.5 „The most ingenious way of
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becoming foolish, is by a system“, heißt es schon bei dem frühen Aufklärer Shaftesbury,6 und noch Goethe warnt davor, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur „zu einer systematischen Form“ zu treiben (HA 13, 20). Die Natur soll der Vernunft zwar zugänglich sein, insofern sie nach Gesetzen funktioniert, die der Verstand einsehen kann, aber sie soll zugleich über alles hinausreichen, was die