Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein
Syntax und Sprache bestehe aus unvereinbaren Fragmenten (1964a: 163). Später konnte Bourdieu die Einsicht durch Ernst Cassirers relationale Wissenschaftstheorie begründen und zu einer konsistenten Theorie ausbauen. Diese Entwicklung wird Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels sein.
Die Einsicht stellte sich nicht von selbst ein. Sie benötigte wohl gut zehn Jahre, um zu reifen. Obgleich bereits der Anfang des ersten Buchs den Keim zur Einsicht enthält, ist sie noch nicht Grundlage der Untersuchung. Die algerische Gesellschaft lasse sich schwer analysieren, heißt es dort, weil sich die Trennlinien in vielfacher Weise überschnitten (1958: 6). Dann aber folgt eine recht klare und kategorische Gliederung in traditionale und moderne Gesellschaft. Die nächsten Veröffentlichungen hatten einen entweder politischen, ethnologischen oder soziologischen Schwerpunkt und ließen die transdisziplinäre Einsicht nicht zur Geltung kommen. Sie beschäftigten sich in erster Linie mit jeweils einem Widerspruch der Kolonialgesellschaft, mit dem Krieg (1959), mit dem Geschlechterverhältnis (1962a), mit der Klassenstruktur (1963), mit der Migration und dem Stadt-Land-Gegensatz (1964a). Erst in der Untersuchung über die Entstehung eines kalkulierenden Denkens (»Algérie soixante«) ist die Einsicht und damit auch Bourdieus Einsicht voll entfaltet.4
Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse von Bourdieus Veröffentlichungen über Algerien skizziert, die teils Etappen auf dem Weg zur Entfaltung der Einsicht, teils Elemente eines Ganzen markieren. Sie münden in den Versuch, die Ungleichzeitigkeit strukturalistisch zu erklären. Da Bourdieus Einsicht jedoch nur fruchtbar zu machen war, wenn man an der Differenz zwischen Individuum und Struktur festhielt, war der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern ermöglichte Bourdieu die Entwicklung seiner eigenen Theorie, deren erste Fassung in der »Theorie der Praxis« (1976; 1972) vorgelegt wurde. Sie wird im dritten Kapitel behandelt.
1.2 Traditionen
Zunächst hatte Bourdieu die Einsicht in eine Ungleichzeitigkeit innerhalb der algerischen Gesellschaft, die durch die Frage angeregt worden war, warum die Menschen nach westlichen Maßstäben in der Wirtschaft irrational handelten, obwohl sich die westliche Marktwirtschaft bereits ausgebreitet hatte. Er entdeckte, dass eingeübte Verhaltensweisen noch fortbestehen, auch wenn sich die Bedingungen bereits geändert haben. Die Menschen in Algerien handelten nicht irrational, sondern sie folgten den Verhaltensmustern, die sie gelernt hatten und über Jahrhunderte die einzig angemessenen gewesen waren. In dieser Einsicht liegt der Ursprung des Habitusbegriffs, wie auch Bourdieu selbst später meinte (Schultheis 2000: 166; siehe drittes Kapitel).5 Mit der Einsicht drängte sich darüber hinaus die Erkenntnis auf, dass die Wirtschaft kein selbständiges System ist, das vollständig aus sich heraus erklärbar wäre. Vielmehr müssen auch die jeweiligen soziokulturellen Bedingungen betrachtet werden. Nur so wird beispielsweise das »irrationale« Verhalten der Menschen in Algerien erklärbar.
Zu Beginn war Bourdieus Beschäftigung mit Algerien noch stark von einem Dualismus geprägt:
»[D]ie Erscheinungen des sozialen, ökonomischen und psychologischen Zerfalls müssen offenbar verstanden werden als Resultat des Zusammenwirkens von ›externen Kräften‹ (Eindringen der westlichen Zivilisation) und von ›internen Kräften‹ (ursprüngliche Strukturen der einheimischen Zivilisation).« (1959: 54; übersetzt von Fuchs-Heinritz, König 2005: 14)
Auf der einen Seite standen die Franzosen, auf der anderen die Algerier. Dem entsprachen zwei Wirtschaftsweisen, eine kapitalistische und eine traditionale. Bourdieu meinte, die koloniale Gesellschaft sei durch einen ökonomischen Dualismus gekennzeichnet (1962 in 2003a: 37). Eine einflussreiche Strömung der gerade entstehenden Entwicklungssoziologie suchte die Kolonialgesellschaften auf genau diese Weise zu verstehen, als duale Gesellschaften, und die Wirtschaftssysteme als duale Ökonomien. Man kann von Glück sagen, dass Bourdieu die Diskussionen in der Entwicklungssoziologie entweder nicht kannte oder sich nicht intensiv mit ihnen beschäftigte. Sonst hätte er vermutlich nicht erkennen können, dass der Dualismus die vielfältigen Verschränkungen von Tradition und Moderne verdeckt.6
Wenn Algerien in den Fünfzigerjahren nur als Konfrontation von kolonialen und traditionalen Formen zu verstehen war, musste sich Bourdieu auch mit der traditionalen Gesellschaft beschäftigen. Das tat er, wie wir gesehen haben, mit größtem Engagement. Die ersten Ergebnisse veröffentlichte er in der »Sociologie d’Algérie«. Das Werk ist noch stark dualistisch geprägt. Auch in den folgenden Werken bemühte sich Bourdieu noch, die Grundzüge der vorkapitalistischen Gesellschaft herauszuarbeiten – die es so schon lange nicht mehr geben konnte, war doch die algerische Küste mindestens seit dem antiken Griechenland integraler Bestandteil der Mittelmeerzivilisation und seit 1830 unter französischem Einfluss gewesen. Auch wenn die Ergebnisse einen idealisierten Charakter haben und nicht mehr den Standards der heutigen Ethnologie genügen, sind sie sehr interessant.
Die traditionale Gesellschaft untersuchte Bourdieu bei den Kabylen, einer ethnischen Gruppe im Bergland Nordalgeriens. Die Kabylei war wegen ihrer Topographie in den Fünfzigerjahren noch recht isoliert. Seine Bevölkerung lebte vom Anbau von Oliven, Feigen und Gemüse (1958: 9ff). Nur wenige Menschen waren zum Islam übergetreten. So meinte Bourdieu, bei den Kabylen einen »ursprüngliche Lebensweise« vorzufinden. Seine Beschreibung der Lebensweise erinnert stark an Emile Durkheim, indem die traditionale Gesellschaft als eine Art totale Gemeinschaft mit mechanischer Solidarität gedeutet wird (1958: 22ff). Durkheim hatte die Auffassung vertreten, dass es in traditionalen Gesellschaften wenig Spielraum für individuelle Abweichungen gebe und die Gesellschaft gleichsam die Substanz der Individuen sei. Selbst wenn Bourdieu für seine »Sociologie d’Algérie« Durkheim nicht gelesen haben sollte – was unwahrscheinlich ist – waren seine Gedanken doch so verbreitet, dass sie Bourdieu sicher vertraut waren. Zweifellos bildeten sie den theoretischen Boden, auf dem seine Einsicht heranwuchs. Denn Bourdieu behielt stets die Auffassung bei, dass die Menschen ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung erwarben. In diesem Sinne blieb für ihn die Gesellschaft die Substanz der Individuen. Die Existenz ungleichzeitiger Gesellschaften in Algerien führte ihn jedoch zu einer Neubestimmung von Durkheims Konzeption. Die Menschen erwerben Bourdieu zufolge zwar ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung, aber diese Muster erweisen sich als träge, indem sie sich nicht gleichzeitig mit den sozialen Verhältnissen ändern. Die Gesamtheit der Muster ist eben der Habitus (siehe 3.1). Der Habitus wird von der Gesellschaft »eingepflanzt«, so dass ein Mensch sozial determiniert ist, aber nach seiner Einpflanzung entwickelt er eine eigene Dynamik, die nicht mit der Dynamik der Gesellschaft identisch ist. Der Habitus bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten, aber er beinhaltet nicht die zukünftigen Bedingungen, auf die er reagieren muss. Die Bedingungen sind vielleicht determiniert, und der Habitus ist determiniert, aber ihr Zusammentreffen eröffnet verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die Gesellschaft nicht verändert, wirkt der Habitus determinierend. Denn die Bedingungen der Einübung sind auch die Bedingungen der Anwendung, das gegenwärtige Denken, Wahrnehmen und Verhalten ist mit dem zukünftigen identisch. Genau das behauptet Bourdieu von den Kabylen (1958: 22ff). Hätte er auf der Basis von Durkheim lediglich ethnologische Feldforschung betrieben, so hätte er den vorangehend skizzierten Gedanken kaum entwickeln können. Es ist wiederum die Vielfalt der Ansätze und Probleme, die ihn über Durkheim hinausführte.
Bourdieu kam zum Ergebnis, dass die Familie der Kern und das Modell der gesamten kabylischen Gesellschaft sei (1958: 11, 20f). Das ist nicht überraschend, denn es gilt für die meisten oder vielleicht alle traditionalen Gesellschaften. In der kabylischen Gesellschaft würden, so Bourdieu, alle Verhältnisse nach dem Vorbild der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmt, die Menschen könnten sich Beziehungen sogar nur nach diesem Muster vorstellen (1958: 21). Das Individuum sei zuerst und vor allem Mitglied einer Familie und sodann ein Mitglied der Gruppe (des Dorfes). Daher empfinde es die Regeln der Gemeinschaft nicht als Zwang, sondern als Teil seines eigenen Bewusstseins (1958: 22). Das Gemeinschaftsgefühl mache politische und rechtliche Institutionen überflüssig (1958: 24). Die Angst vor der Gemeinschaft – insbesondere vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft – sei bereits eine hinreichende Garantie für Konformität (1958: 22, 86). Mangelnde Konformität beschmutze das eigene Ansehen und sei ein Angriff auf die Gemeinschaft (1958: 25; 2000c: 46). Diese doppelte Sicherung bezeichnete