Die Soziologie Pierre Bourdieus. Boike Rehbein

Die Soziologie Pierre Bourdieus - Boike Rehbein


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Bourdieu quer zu allen Fronten. Die »fast metaphysischen Fragen« mussten in Paris am Schreibtisch gelöst werden, während sich echte Wissenschaftler mit allem beschäftigten, nur nicht mit der Revolution. Wenn man sich mit der Entstehung eines kapitalistischen Denkens beschäftigte, so war man Anhänger Max Webers, und wenn es um den Klassenkampf ging, musste man sich hinter Marx stellen. Und in Algerien stand man als Franzose auf der falschen Seite. Bourdieu missachtete diese eindeutigen Zuordnungen. Wenn Bourdieu Webers Frage »in marxschen Begriffen stellte«, so heißt das, dass er eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht in der Religion suchte, sondern in den Klassenkämpfen. Umgekehrt setzte er keineswegs die marxsche Lehre der zwei Klassen voraus, sondern suchte die Klassen empirisch zu bestimmen, und zwar nicht nur ökonomisch.

      Zu diesem Zweck ergänzte er die Fragebögen der großen statistischen Untersuchung über die algerische Bevölkerung um Fragen nach revolutionären Projekten. »Dabei habe ich festgestellt, dass das Subproletariat zwischen einem großen Veränderungswillen und einer fatalistischen Hinnahme der Welt, so wie sie ist, hin- und herschwankt.« (2003a: 44) Die Erkenntnisse über das algerische Subproletariat hat Bourdieu mit seiner Ethnologie der Kabylen und den Einsichten in die Entstehung des Kapitalismus zu einer vorläufigen Beschreibung der Sozialstruktur Algeriens insgesamt verknüpft, deren Grundzüge oben erwähnt wurden. Im Folgenden sollen die Ergebnisse noch etwas detaillierter betrachtet werden. Sie können unter drei Schlagworten zusammengefasst werden: Zerstörung der ländlichen Strukturen, Perspektivlosigkeit (der Landflüchtigen und der Subproletarier) und Folgen des Kolonialsystems.

      Die Zerstörung der ländlichen Strukturen kann nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden. Viele Aspekte des Kolonialsystems griffen ineinander, die zusammen die Struktur einer Konfiguration oder eines Kaleidoskops bildeten (1958: 82). Bourdieu interessierte sich wenig für die Beschreibung der gesamten Konfiguration, sondern konzentrierte sich – wie oben ausgeführt – auf die Entstehung des Kapitalismus und das Klassenbewusstsein. Vor diesem Hintergrund war die Zerstörung ländlicher Strukturen insofern interessant, als sie Menschen aus den traditionalen Netzen befreite und zum Eintritt in kapitalistische Strukturen nötigte. Gleichsam nebenbei beobachtete Bourdieu, wie sich die »traditionale« Lebensweise auf dem Land änderte. Er erkannte beispielsweise, dass die Verwandlung von (zuvor gemeinschaftlichem) Grundbesitz in Eigentum die ländliche Sozialstruktur fundamental veränderte. Die Menschen gerieten in Versuchung, ihr Land, das jetzt ihr Eigentum war, unter dem Marktwert zu verschleudern, um Mittel für den augenblicklichen Konsum zu haben (2000c: 39). Und ehe sie sich’s versahen, standen sie ohne Land und ohne Geld da. Es bleiben die Auswege des – traditionell verpönten – Kredits und der Lohnarbeit. Bourdieu betrachtete die Registrierung des Grundbesitzes als eine Strategie der Kolonialverwaltung, das Land auf legalem Weg in den Besitz der Weißen zu bringen, die über die finanziellen Mittel verfügten, es zu erwerben (1964a: 16).9

      Neben dem »Push-Factor« der legalen Enteignung wirkte Bourdieu zufolge der »Pull-Factor« des Konsums auf die jüngere Landbevölkerung (1963: 371f). Dieser wurde noch verstärkt durch die westliche Bildung, die ältere Algerier nicht hatten. Dadurch wurde die traditionelle Hierarchie innerhalb der Familie und damit innerhalb der Gemeinschaft aufgeweicht (2000c: 80). Die Autorität und das Wissen der Älteren verloren an Wert. Das galt auch für die soziale Position der Bauern insgesamt, die über die neue Welt nichts wussten (1964a: 92f). Die Stellung der Frau verbesserte sich durch die Aufweichung nicht unbedingt, weil ihre wirtschaftliche Abhängigkeit zunahm (2000c: 81f). In traditionalen Gemeinschaften mussten Frauen keinen Schleier tragen, weil die Bereiche von Mann und Frau sozial klar getrennt waren. Da die Trennung in der Welt der Lohnarbeit und der Stadt nicht mehr aufrecht zu erhalten war, mussten die Frauen nun Schleier tragen oder ganz zu Hause bleiben, um der geltenden Deutung des Islam zu entsprechen (1964a: 132ff).

      Schließlich wurden die ländlichen Strukturen durch den Krieg zerstört. Bis 1960 war insgesamt etwa ein Viertel der algerischen Bevölkerung umgesiedelt worden (1964a: 13). Ferner verursachten die Kriegshandlungen auch physische Zerstörung, verwandelten Bauern in Soldaten und verlangten nach neuen Organisationsformen. Die meisten Umgesiedelten fanden sich in Städten wieder, wo sie neben Angehörigen anderer Gemeinschaften und Clans wohnten, mit denen sie kein soziales Netz verband (1963).

      Bei den Menschen, die von ihrer traditionalen Gemeinschaft abgetrennt waren, ohne in neue Strukturen eingebunden zu werden, diagnostizierte Bourdieu eine objektive und subjektive Perspektivlosigkeit. Sie ist es, die er als »moralisches Elend« bezeichnete (siehe oben). Die in prekären Situationen lebenden Stadtbewohner (die Bourdieu als »Subproletariat« klassifizierte) waren am stärksten davon betroffen. Sie hatten weder objektive noch subjektive Möglichkeiten, ihre eigene Zukunft zu gestalten. Traditionales Handeln war entwertet und den Bedingungen nicht angepasst, für kapitalistisches Handeln fehlten die Mittel und die Kenntnisse (1963, insbesondere 347–361).10 »Traditionalismus der Hoffnungslosigkeit und Mangel an Lebensentwürfen sind zwei Gesichter einer einzigen Wirklichkeit.« (2000c: 85) Als virtuellen Fluchtpunkt des Daseins ermittelte Bourdieu die Arbeitslosigkeit (2000c: 95). Das Subproletariat war nicht an einem Aufstieg oder an einer Arbeit orientiert, sondern an der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Die Wünsche und Hoffnungen der Menschen aber, die keine realen Möglichkeiten hatten, erwiesen sich in Befragungen als völlig irreal (2000c: 87ff). Erst bei steigendem Einkommen waren sie erfüllbar. Diese Diagnose ist leider immer noch höchst aktuell.

      Die Folgen der Konfrontation von kapitalistischer und traditionaler Gesellschaft ergeben sich aus der voranstehend skizzierten Diagnose nahezu von selbst. Die Grundlage der traditionalen Wirtschaft und Gesellschaft, die Familie, wurde gelockert oder gar aufgelöst. Die Mitglieder einer Familie waren nicht mehr in ein klar strukturiertes Ganzes integriert, sondern mussten – tendenziell allein – auf dem freien Markt die Mittel zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen suchen (1963: 322f). Der ökonomische Druck machte alte Verhaltensmuster sinnlos oder unmöglich, aber an ihre Stelle traten nicht unbedingt »rationale« kapitalistische Verhaltensmuster. Denn den meisten Menschen fehlten die subjektiven und objektiven Mittel, sich in der neuen Ordnung rational zu verhalten (1963: 338). Infolgedessen suchten viele Menschen in einem fruchtlosen Traditionalismus – oder eher: Konservatismus (Saalmann 2005b) – Zuflucht, während andere absurde Verhaltensweisen entwickelten (1963: 338; 1964a: 19).

      Eine gewisse Veränderung des traditionalen Habitus gelang in zwei Bereichen. Den ersten bildete der Konsum. Die Algerier kannten von der europäischen Lebensweise in erster Linie den Luxus, den sie in der Folge ebenfalls begehrten. Sie waren »kapitalistische Konsumenten, bevor sie kapitalistische Unternehmer« werden konnten (1963: 372; eigene Übersetzung). Diese Veränderung konnte in allen Klassen geschehen, am ehesten aber natürlich bei Menschen, die engen Kontakt mit der europäischen Bevölkerung hatten. Den zweiten Bereich der Veränderung bildete die europäische Arbeitswelt, insbesondere das Unternehmertum. Hierbei spielten das Militär und die Emigration eine nicht zu vernachlässigende Rolle (2000c: 14).11 Allerdings gab es kaum algerische Unternehmer, da den Algeriern Kapital, Wissen und Führungsqualitäten fehlten (1963: 375). Im Handel und Handwerk hingegen blieben die traditionalen Verhaltensmuster noch weit gehend erhalten, weil der ökonomische Druck fehlte (1963: 376). Der gesellschaftliche Aufstieg gelang also in erster Linie Menschen mit engem Kontakt zu Europäern, einer gewissen Bildung und Kenntnis der französischen Sprache (2000c: 116f). Nur diesen Menschen schrieb Bourdieu ein revolutionäres Potenzial zu, weil sie mit den Europäern auf einer Ebene kommunizieren und realistische Forderungen erheben konnten.12 Das Subproletariat konnte nur mit einer Sprache reagieren, die nicht mit seiner Wirklichkeit verknüpft war und nicht von ihm selbst stammte (2000c: 97f). Ferner hatten die von ökonomischer Not geprägten Menschen keinen Blick für das Ganze, sondern nur für ihre unmittelbare Not (2000c: 101).

      »Mit einer Dauerstellung, geregeltem Lohn und mit dem Auftauchen realer Aufstiegsperspektiven kann ein weltliches, offenes und rationales Bewusstsein entstehen. Dann sieht man, wie die Widersprüche zwischen den maßlosen Erwartungen und den verfügbaren Möglichkeiten schwinden, zwischen den auf imaginärer Basis geäußerten Meinungen und den wirklichen Haltungen. Die Handlungen, Wertungen und Erwartungen sind einem Lebensplan untergeordnet. Dann, und nur dann, kann die revolutionäre Haltung die Flucht in den Traum ersetzen, die fatalistische Resignation oder das wütende Ressentiment […] Beschäftigungsstabilität und sicherer Lohn sind die Voraussetzung


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