Grundlagen der globalen Kommunikation. Kai Hafez
Bahrdt 1997). Letztlich ist hier Habermas‘ Dualismus von System und Lebenswelt von Bedeutung (Habermas 1995), wobei noch die Frage zu klären wäre, wer hier wen „kolonisiert“. Eine differenzierte Sichtweise auf Kommunikationsweisen von Systemen und Individuen (Kap. 1.3.) und deren Wechselwirkungen (Kap. 1.4.) ist aus unserer Sicht jedoch unbedingt erforderlich.
System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz
Eine zweite Vorbemerkung ist notwendig: Der Systembegriff, der hier verwendet wird, ist kein streng funktionalistischer. Zwar führen wir selbstbewusst Kommunikationsprozesse als Momente der Theoriebildung ein. Wovon wir allerdings Abstand nehmen wollen, ist eine rein prozessorientierte Theoriebildung, die die Akteure als Kommunikatoren zu bloßen „Objekten“ abstrakter Abläufe wie „Vernetzungen“, „Konnektivitäten“ und „Kommunikationsflüssen“ macht. Die moderne Netzwerktheorie tendiert dazu, eine Akzentverschiebung von sozialen Akteuren zu Netzen vorzunehmen, wobei die interne Logik von Systemen (z.B. Organisationen, Unternehmen, aber auch psychischen Systemen von Individuen) oder Lebenswelten weniger beachtet werden als die zwischen den Systemen oder Lebenswelten bestehenden Netzwerke und Austauschbeziehungen. Die internen Strukturen kollabieren quasi unter dem Druck der Vernetzung. Dazu Jan van Dijk: „Traditional internal structures of organizations are crumbling and external structures of communication are added to them” (2012, S.33). Ähnlich äußert sich auch George Ritzer mit dem Hinweis auf die Prozesssoziologie von Norbert Elias: „[F]ollowing Elias, in thinking about globalization, it is important that we privilege process over structure (just as we have privileged flows over barriers)“ (2010, S.25).
In diesem Buch stehen zwar Kommunikationsprozesse im Vordergrund; Systeme und Lebenswelten bleiben aber kopräsent. Netzwerke sind Beziehungen innerhalb oder zwischen Sozialsystemen (Endruweit 2004, S.26), sie sind aber nicht die Sozialsysteme selbst, die deshalb mitgedacht werden müssen. Unsere Perspektive ist daher weder die der Akteur-Netzwerk-Theorie Latours noch die der Netzwerk-Theorie von Castells, sondern sie ist am ehesten als System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz zu bezeichnen. Dieser Ansatz ähnelt der von Roger Silverstone eingeführten und von Nick Couldry an der London School of Economics and Political Science (LSE) weitergeführten Sicht. Die Netzwerkmetapher wird dort als theoretisch zu anspruchslos für die Sozialtheorie angesehen, da sie die von den Handelnden erzeugten Interpretationen der Netzwerke unberücksichtigt lässt (Couldry 2006, S.104). Couldry spricht hier zu Recht von einem „problematischen Funktionalismus“, „so zu tun, als ob Medien das Soziale und die natürlichen Kanäle des sozialen Lebens und sozialer Auseinandersetzung wären, anstatt hoch spezifische und institutionell fokussierte Mittel der Repräsentation des sozialen Lebens“ (ebenda, S.104). Er wendet sich gegen den „Mythos des mediatisierten Zentrums“ und kritisiert die Tendenz der Kommunikationswissenschaft, Medien mit Gesellschaft gleichzusetzen (ebenda, S.105). Auch der deutsche Kommunikationstheoretiker Manfred Rühl äußert sich ähnlich: „Globale Kommunikationssysteme sind eingebettet in psychische, organische, chemische, physikalische, kurz: in nicht-kommunikative Mitwelten, die […] bei der Verwirklichung von Kommunikation mitwirken, ohne dazuzugehören. Kommunikationssysteme sind von der Mitwelt klar abzugrenzen, aber nicht zu trennen“ (ebenda, S.362).
Insbesondere in der auf Talcott Parsons zurückgehenden struktur-funktionalistischen Systemtheorie werden schnell ablaufende funktionale Prozesse in Relation zu stabilen Strukturen gesetzt, auf der Basis der „Annahme eines systemimmanenten Bedürfnisses nach Selbsterhaltung, also nach Integration und Kontinuität“ (Kunczik/Zipfel 2001, S.69). Selbst Niklas Luhmann leugnet letztlich nicht das Vorhandensein solcher Strukturen, auch wenn seine „funktional-strukturelle Systemtheorie“ die Dynamik der Prozesse betont und die Schwergewichte in Abgrenzung von Parsons verlagert (Kneer/Nassehi 1997, S.116). Die Akteure lösen sich also gerade bei Parsons nicht in den Netzwerken auf, sondern sie bleiben als autonome Strukturen erkennbar, auch wenn sie sich funktional anpassen und von den (Kommunikations-)Prozessen beeinflusst werden können. Auch der Soziologe und Luhmann-Interpret Armin Nassehi folgt einer ähnlichen Grundidee, wenn er einerseits die erstaunliche Hartnäckigkeit sozialer Strukturen betont, andererseits aber die steigende Komplexität moderner (digitaler) Kommunikate erkennt, wobei er ausdrücklich die Frage eines durch digitale Kommunikation erfolgenden sozialen Strukturwandels offenlässt (2019). Im Gegensatz dazu behaupten Netzwerktheoretiker einen Primat des „Relationismus“ vor dem „Substanzialismus“ (Nexon 1999); sie sind der Ansicht, dass die Prozesse die Strukturen sind.
Wir sind hingegen der Meinung, dass eine sinnvolle Analyse zunächst von der Kopräsenz von System- und Lebensweltstrukturen einerseits und Kommunikationsprozessen andererseits ausgehen sollte, zugleich aber offen sein muss für:
die mögliche Verschachtelung von System- und Lebensweltstrukturen (auch in den Organisationen stecken informelle Lebenswelten wie auch in den Lebenswelten die Systeme einflussreich sein können) (Kneer/Nassehi 1997, S.142f.);
die mögliche dominante Prägekraft der Strukturen mit Blick auf die Kommunikationsprozesse (strategisches Handeln);
die mögliche dominante Prägekraft der Kommunikationsprozesse mit Blick auf die Strukturen (kommunikatives Handeln).
Die ganze Debatte erinnert an die Auseinandersetzung in der Lehre der Internationalen Beziehungen zwischen Neo-Institutionalisten (wie Robert O. Keohane und Joseph Nye) und Funktionalisten (wie David Mitrany). Unser System-Lebenswelt-Netzwerk-Ansatz will den Dualismus von Akteuren und Funktionen zugunsten einer pragmatischen Sichtweise aufgeben, die durchaus Raum für einen starken Einfluss funktionaler (auch technischer) Prägungen der Prozesse der globalen Mediatisierung lässt, Systemen und Lebenswelten als den Polen in globalen Diskursen und Dialogen aber zugleich die Möglichkeit einer prägenden Gestaltung nicht abspricht. Eher als der pure Neo-Institutionalismus oder der Funktionalismus entspricht also das System-Lebenswelt-Netzwerk-Denken unserer eigenen Herangehensweise. Netzwerktheorie lässt sich nämlich mit anderen Theorien wie der System- oder der Lebenswelttheorie durchaus koppeln (Häußling 2005, S.269ff.). Diese Form der „modularen Theorie“ halten wir für sinnvoll, um den Widerspruch zwischen Strukturalismus und Funktionalismus kreativ zu verarbeiten.
Globale Zentren und Peripherien
Eine letzte Vorbemerkung ist erforderlich, die den Aspekt des Postkolonialismus anspricht. Wer Strukturen analytisch stark macht, muss sich unweigerlich mit der Frage beschäftigen, ob eben diese Strukturen nicht nach weiteren Differenzierungen verlangen, etwa was das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern oder zwischen ehemals kolonisierten und kolonisierenden Staaten betrifft. Johan Galtungs Vorstellung von einem strukturellen Imperialismus der Weltgesellschaft, die (Macht-)Zentren und (Macht-)Peripherien ausbildet (1973), wird uns in diesem Buch latent ständig begleiten, etwa wenn es um die Ausprägung von Diskurs- und Dialogstrukturen im Kontext bestimmter Formationen wie der OECD, der Europäischen Union oder auch geolinguistischer Einheiten wie der spanischsprachigen oder arabischsprachigen Welt geht.
Dennoch sind wir der Meinung, dass solche Strukturvariablen eher universell als partikular und schon gar nicht kulturspezifisch zu deuten sind. Sowohl die inneren Kommunikationsabläufe in Systemen und Lebenswelten als auch die Interdependenzverhältnisse zwischen Systemen und/oder Lebenswelten als Umwelten (siehe unten) lassen weltweite frappierende Ähnlichkeiten über politische und kulturelle Systemgrenzen hinweg erkennen, wo kulturübergreifende Strukturmuster wie Nationalstaaten, transnationale Unternehmen, soziale Bewegungen, Gemeinschaften und Lebenswelten vorhanden sind. In diesem einen Punkt unterscheiden wir uns also nicht von den Vertretern des Relationismus. Globale Strukturunterschiede bilden reale Machtunterschiede ab; sie sind aber keine absoluten Kulturunterschiede, sondern gerade durch Prozesse der globalen Beobachtung und Interaktion in stetigem Wandel begriffen.
Inventarisierung: Global kommunizierende Sozialsysteme und Lebenswelten
Wendet man sich nach diesen Vorbemerkungen nunmehr einer Inventarisierung der Akteure globaler Kommunikation zu, so lassen sich – noch vor der Beschreibung komplexer Lebenswelten – unterschiedliche Systemgrößen erkennen: Individuen als psychische Systeme ebenso wie organisierte und nicht organisierte Sozialsysteme. Grenzüberschreitende Kommunikation kann zwischen gleichen wie auch ungleichen Polen entstehen, also zwischen den politischen Systemen oder auch zwischen Individuen und organisierten Sozialsystemen usw. Sie kann zudem