Grundlagen der globalen Kommunikation. Kai Hafez
ist wiederum abhängig davon, ob Individuen diese Erfahrungen alleine machen oder in Gruppen, beispielsweise mit der Familie, Freunden oder Kollegen, in welchen Gemeinschaftszusammenhang das Erfahrungswissen eingebettet wird und in welcher Nachhaltigkeit globale Kontakte weiterbestehen. So ist es ein Unterschied, ob das globale Wissen als Expertenwissen in der Berufsrolle des Einzelnen verbleibt oder zum Verhandlungsgegenstand einer lokalen Gemeinschaft wird. Entscheidend sind also nicht nur die Rollenmuster und Rahmenbedingungen globaler Interaktionen von Einzelnen, sondern auch lokale Weiterverarbeitungen globalen Wissens, das aus unterschiedlichen Kontaktsituationen entsteht und eher expliziten (z.B. Faktenkenntnis) oder impliziten Charakter (Erfahrungswissen) haben kann.
Fazit: alte und neue globale „Eliten“ aus Systemen und Lebenswelten
Dies alles mündet in der Frage nach der Rolle heutiger globaler Eliten. Es kann für eine Analyse globaler Kommunikation nicht nur darum gehen, strategische Eliten (der organisierten Sozialsysteme) zu benennen, die globale Entwicklungen durch die Interaktionen der Sozialsysteme mitgestalten (wie in der älteren integrationistischen Systemtheorie, siehe oben), sondern wir müssen auch fragen, welche sozialen Eliten heute Lebenswelten prägen. Wenn wir dazu jene zählen, die globale Kontakterfahrungen haben, dann hat dies Auswirkungen auf ein herkömmliches Elitenverständnis. Denn „globales Kapital“ im Sinne eines Wissens, das über die Realitätserfahrungen lokaler Lebenswelten hinausgeht, hätten dann auch jene Gruppen und Individuen aufzuweisen, deren Status als gesellschaftliche Meinungsführer kaum anerkannt ist. Ein Beispiel wären Migranten und Migrantinnen, die sich in den neuen Einwanderungsgesellschaften noch heute gesellschaftlichen Marginalisierungen ausgesetzt sehen, im Grunde aber privilegierte Erfahrungen der Grenzüberschreitung besitzen. „Alte“ und „neue“ Eliten sind unter den Bedingungen globaler Kommunikation also neu zu definieren. Die Betrachtung der globalen Kommunikation der Lebenswelt wird im weiteren Verlauf des Buches immer auch eine Diskussion von Eliten- und Massenpositionen beinhalten. Es sind die individuellen, gruppalen und gemeinschaftsförmigen globalen Erfahrungen alter wie auch neuer globaler Eliten, die gesellschaftliche Entwicklungen beeinflussen und es sind ihre kommunikativen Aushandlungen, die den globalen Erfahrungen ihre gesellschaftliche Rolle und Relevanz zuweisen.
1.3 Spezifische Kommunikationsmodi (Systemverbindungen) von Systemen und Lebenswelten
Globale Kommunikationsmodi der Akteure: ein Kontinuum
Fragen wir nun, welche Formen globaler Kommunikation für die Akteure typisch sind, so ist zunächst erkennbar, dass eigentlich alle Akteure im Feld eine Reihe von Kommunikationskanälen/-medien simultan verwenden, unter anderem
Massenmedienkommunikation
Face-to-Face-Kommunikation
Versammlungs- und Gruppenkommunikation
Interpersonale mediatisierte Kommunikation.
Bezeichnend ist allerdings, dass auf jeder dieser Ebenen die oben erörterte kommunikative Leitdifferenz zwischen Beobachtung und Interaktion/Dialog in unterschiedlicher Ausprägung und Stärke vorliegt. Subsysteme und Individuen der Gesellschaften kommunizieren vielfältig, ihre Fähigkeiten zur Beobachtung wie auch zur Interaktion sind aber mehr oder weniger ausgeprägt, was das Kontinuum der Abbildung 1.2 zu veranschaulichen versucht.
Mit Hilfe des dargestellten Kontinuums lassen sich in Anlehnung an die kommunikativen Grundmodi nunmehr spezifische primäre und sekundäre Kommunikationsmodi der einzelnen Akteure globaler Kommunikation bestimmen, die im Fortgang des Kapitels genauer beschrieben werden. Massenmedien können gut beobachten, archivieren und systematisieren, sie gehören zu den zentralen Speichermedien kollektiver Erinnerung, sie pflegen aber monologische One-to-Many-Kommunikation und sind im Kern nicht-interaktiv, auch wenn einzelne Elemente der Massenmedienkommunikation (Rechercheinterviews, Talkshows) einen interaktiven Charakter haben, was allerdings als sekundärer Kommunikationsmodus einzustufen ist.
Akteursspezifische Kommunikationsmodi
Auf der anderen Seite des Kontinuums befinden sich Individuen und Kleingruppen, begrenzt auch Großgemeinschaften (vor allem in interaktiven Netzgemeinschaften), die gut im Interagieren und im Dialog sind, aber schlechter im Beobachten als organisierte Sozialsysteme, da ihnen die Ressourcen für organisierte Beobachtung fehlen. Sie sind allerdings prädestiniert für „echte“ Dialoge und gemeinsame Sinndeutungen im Zuge der Face-to-Face-Interaktion. Zum Beispiel sind auf internationalen Reisen die Möglichkeiten der direkten Beobachtung begrenzt: Das Expertenwissen über das Land, das eine Person bereist, ist weitgehend nur mit Hilfe der anderen Sozialsysteme abrufbar, die etwa systematisiertes Wissen über die Region in Medien und Büchern zur Verfügung stellen. Die Möglichkeiten der direkten Interaktion sind hingegen ohne große Transaktionskosten gegeben, sieht man einmal von Sprachhürden ab, und einfacher zu realisieren als in den die Beobachtung ermöglichenden Sozialsystemen wie den Massenmedien, in denen Interaktion bestenfalls vor Abfassung eines journalistischen Textes als Prozesselement vorhanden ist, dann aber durch die klare Produzenten-Rezipienten-Beziehung einer monologischen Kommunikationsform weicht.
Andere organisierte Sozialsysteme wie die Politik, Wirtschaft oder NGOs/soziale Bewegungen zeichnen sich durch hohe Hybridität mit Blick auf die Grundmodi der Kommunikation aus, da sie einerseits über ähnlich hohe Ressourcen und Kompetenzen der Weltbeobachtung verfügen wie die Massenmedien. Nicht umsonst ähnelt sich der strukturelle Aufbau des diplomatischen Botschafter- und des journalistischen Korrespondentenwesens. Beide Institutionen dienen der globalen Informationsbeschaffung. Auch internationale NGOs (INGOs) wie Amnesty International fertigen weltweit Berichte (z.B. über die Situation der Menschenrechte) an. Andererseits pflegen diese Sozialsysteme als dezidierte Handlungssysteme, die nicht nur beobachten, sondern gestalten, direkte grenzüberschreitende Interaktion (Diplomatie, Außenwirtschaftskommunikation, Unternehmens- und Organisationskommunikation in TNCs und INGOs).
Globale Interaktivität jenseits der Massenmedien?
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Beobachtung und Interaktion bei allen Akteuren in unterschiedlicher Ausprägung vorliegen, was jeweils auf spezifische Funktionen und Zielsetzungen der Akteure zurückzuführen ist. Es versteht sich von selbst, dass die Aufzählung der Systeme nicht vollständig ist und durchaus erweiterbar, etwa um das Subsystem der Wissenschaft mit ihrer ganz eigenen Mischung aus globalen Diskursen und Interaktionen. Die vielfältigen Wechselwirkungen von Individuen und Sozialsystemen, die jeweils „Umwelten“ füreinander darstellen, werden Gegenstand eines weiteren Schrittes der Theoriebildung der Interdependenz sein und keineswegs unterschlagen (vgl. Kap. 1.4). Zunächst lässt sich jedoch folgende Arbeitshypothese formulieren: Wenn wir heute von globaler Gemeinschaftsbildung (Weltgemeinschaftlichkeit) sprechen, dann weniger von den Massenmedien, deren primäre Aufgabe es ist, diskursive Weltöffentlichkeit herzustellen, als von anderen interaktiven Sozialsystemen sowie von den Individuen und ihren Lebenswelten, in denen prinzipiell interaktive Gemeinschaftlichkeit zum Tragen kommen kann.
Es ist wohl nicht übertrieben zu behaupten, dass der Hauptgegenstand der Globalisierungsforschung bislang die Diskursanalyse in Form der Öffentlichkeits- und Medienkommunikation gewesen ist, während die Interaktionsanalyse vor allem im Bereich der nicht-öffentlichen Kommunikation bei Systemen wie auch Lebenswelten nur selten im Fokus theoretischer wie auch empirischer Betrachtungen gestanden hat. Die grundlegende Frage, ob soziale Interaktion im Prozess der Globalisierung eigentlich ebenso „mitwandern“ kann wie diskursive Kommunikation, bleibt daher unbeantwortet. Damit ist auch die Gemeinschaftsdimension bislang vollständig vernachlässigt worden. Eine umfassende Globalisierungsbilanz muss allerdings alle Bereiche der Kommunikation im Blick behalten.
Synchronisation der Weltöffentlichkeit: das Problem der Massenmedien
Wie lassen sich nun die globalen Kommunikationsprozesse der drei wesentlichen Akteurstypen beziehungsweise -dimensionen – Massenmedien, organisierte Sozialsysteme und Lebenswelten – genauer beschreiben? Die Hauptaufgabe der Massenmedien besteht in der Herstellung nicht-interaktiver Diskurse. Natürlich gibt es Ausnahmen: Talkshows, Medienblogs