Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
von einem dogmatisch verfestigten, in einem bestimmten Epochenbild festgeschriebenen Begriff von Moderne und die Erneuerung des Dogmatismus der Offenheit sein, oder aber umgekehrt die Abkehr von dem Dogmatismus der Offenheit und Wiedergewinnung eines produktiven Verhältnisses zu den Traditionen von Kunst und Kultur und zu dem Institut der Traditionsbildung überhaupt? Streng genommen, müßte es sich eigentlich um ein Drittes handeln: um die Überwindung des „Konflikts der modernen Kultur“, des zum Automatismus erstarrten Hin und Her zwischen der dogmatischen Verfestigung neuer Formen und ihrer nicht minder dogmatischen Wiederauflösung – wie immer dies im einzelnen zu denken sein mag.
Lublinski tritt für die zweite Option ein; er meint, in der Literatur der Zeitgenossen ein Erlahmen des Pathos der Innovation und eine neue Offenheit für das kulturelle Erbe, auch für das klassische Erbe, wahrnehmen zu können. Doch damit irrte er sich. Denn in dem gleichen Jahr 1909, in dem er seinen „Ausgang der Moderne“ vorlegte, trat F. T. Marinetti in Paris mit dem „Manifest des Futurismus“ an die Öffentlichkeit, das zur Initialzündung für eine ganze Reihe von neuen Avantgarden wurde, und gründete Kurt Hiller (1888–1972) in Berlin den „Neuen Club“, in dem die ersten Expressionisten zusammenfanden. Hier wie dort wurden die Forderungen der ersten Modernen nicht einfach nur erneuert, sondern auf eine Weise zugespitzt, die ihnen eine besonders große Durchschlagskraft verschaffte, so daß das kulturelle Leben nun heftiger aufgemischt wurde als je zuvor. Damit hatte sich die Idee der Postmoderne fürs erste erledigt; der Avantgardismus ging in eine neue Runde.
Damit die Vorstellung von einer Postmoderne wirklich Fuß fassen und zu einem Kristallisationspunkt des Nachdenkens über die Moderne werden konnte, mußte die Welt erst sehr viel mehr an Avantgarden erlebt und an moderner Kunst und Literatur gesehen haben und mußte sich deren Wahrnehmung in ganz anderem Maße zum Bild einer Epoche verdichtet haben als zu Zeiten Lublinskis. So dauerte es bis in die sechziger, siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bis sich ein Postmoderne-Diskurs etablieren konnte.34 Wie sehr sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche bis dahin verfestigt hatte, ist vor allem daran zu erkennen, daß man inzwischen begonnen hatte, von der Kunst und Literatur der ersten Dezennien des Jahrhunderts als von der „klassischen Moderne“ zu sprechen.
Das Prädikat klassisch zeigt an, auf welche Weise sich der Blick auf sie verändert hatte. Hier wie überall verweist es auf ein Zugleich von Distanz und Nähe. Einerseits konnte man die Kunst der Ersten Moderne nicht mehr als Kunst der Gegenwart empfinden, schaute man auf sie als etwas in geschichtliche Ferne Gerücktes, historisch Gewordenes zurück, und dies um so mehr, als eine dezidiert moderne Kunst und Literatur in der Zeit des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs fast völlig aus der Öffentlichkeit verschwunden war, es inzwischen also wirklich so etwas wie einen „Ausgang der Moderne“ gegeben hatte. Andererseits fühlte man sich ihr aber auch wieder nahe, näher jedenfalls als der Kunst der Jahre 1933–1945; nicht umsonst hatte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg darangemacht, „eine ähnliche Stilaufbruchsbewegung wie 1910–1920“ auf den Weg zu bringen, eine „Phase II“ der Moderne (G. Benn),35 eine Zweite Moderne, für die die Erste Moderne das klassische Vorbild war.
Und so waren Autoren wie Gerhart Hauptmann und Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht, Franz Kafka und Robert Musil zu „Klassikern der Moderne“ geworden, zu „Autoritäten“, von deren Werken aus sich „Prinzipien“ einer modernen Literatur entwickeln ließen, ein „Ideal“ moderner Kunst, das sich als „Dogma“ handhaben ließ. Als Beispiel für solche dogmatischen Anstrengungen sei hier nur „Die Struktur der modernen Lyrik“ (1956) von Hugo Friedrich genannt, ein Werk, das für mehr als ein Jahrzehnt das Vademecum aller Jünger der Moderne war.
Wir wollen nicht überhören, daß in der Wendung „klassische Moderne“ zwei Begriffe zusammengebracht werden, die eigentlich nicht zusammenpassen. „Modern“ meint aktuell, „klassisch“ meint zeitlos. Den „Klassikern der Moderne“ soll es also gelungen sein, Werke zu schaffen, die zugleich aktuell und zeitlos wären. Das aber heißt nichts weniger, als daß in ihnen der „Konflikt der modernen Kultur“ gelöst wäre. In ihnen soll man Bildern des modernen Lebens begegnen können, die auch viele Jahrzehnte nach ihrer Entstehung noch nichts von ihrer Aktualität verloren hätten, denen die Modernisierungsdynamik mithin nichts hätte anhaben können. Sie sollen den Prozeß der Modernisierung zugleich repräsentieren und transzendieren, sollen sich in der Auseinandersetzung mit ihm, gerade mit ihm und nur mit ihm, einen Ort erobert haben, an dem sie selbst seiner Dynamik überhoben wären.
Was immer von einer solchen Sicht der „Ersten Moderne“ zu halten sein mag – jedenfalls wurde der Begriff der „klassischen Moderne“ in den sechziger, siebziger Jahren zu gängiger Münze. Das war der Schlußstein in der Entwicklung, in der sich die Vorstellung von der Moderne als einer Epoche mit einem fest umrissenen, besonderen Profil heranbildete, ein letzter Schritt, der die Idee einer Postmoderne erneut und nunmehr mit besonderem Nachdruck auf den Plan rief. Die Diskussion, die sich an ihm entzündete, war wesentlich dadurch gekennzeichnet, daß man nun nicht mehr nur gegenüber den Vorstellungen auf Abstand ging, mit denen der Begriff der Moderne als Epochenbegriff dogmatisch gefüllt worden war, sondern auch gegenüber den Mitteln, mit denen der programmatische Modernismus solche dogmatische Verfestigung wieder aufzulösen pflegte.
Und in der Tat: wen sollte es nach einem Jahrhundert moderner Kunst und Literatur noch hinter dem Ofen hervorlocken, wen provozieren oder animieren, beunruhigen oder beflügeln, wenn es zum x-ten Mal gegen den „Bann der Überlieferung“ geht und „Autoritäten“ ausgehebelt, „Konventionen“ aufgebrochen und „Formen gesprengt“ werden! Nichts klingt in den Ohren der Zeitgenossen vertrauter als dies, an nichts hat man sich so gründlich gewöhnen können. Insofern ist inzwischen nichts so wohlfeil, nichts weniger originell und riskant, als den programmatischen Modernismus der „Ersten Moderne“ noch einmal aufs Tapet zu bringen. Mit der Tradition zu brechen ist zu einem Ritual geworden, hat selbst die Gestalt einer Tradition angenommen, die eines Traditionsbruchs würdig wäre.
So lautet jedenfalls die Diagnose, die Botho Strauß (geb. 1944) in „Die Fehler des Kopisten“ (1997) der Kultur der Gegenwart stellt. Strauß gehört zu den Autoren, die besonders gerne genannt worden sind, wo man nach deutschen Beispielen für eine postmoderne Literatur suchte. Bei „Die Fehler des Kopisten“ handelt es sich um ein zeitdiagnostisches Journal, das irgendwo zwischen Autobiographie, Essay und Prosagedicht angesiedelt ist, eine Form, wie man sie auch von Peter Handke (geb. 1942), etwa von dessen „Journal“ „Das Gewicht der Welt“ (1977) her kennt. Für Strauß ist das Brechen mit Traditionen und Sprengen von Formen in den Händen der Zweiten Moderne zu einem „Schredder“ geworden, in dem alles, was an neuen Möglichkeiten erprobt wird, sogleich wieder verschrottet wird, so daß sich kein künstlerischer Impuls mehr entfalten und kein Projekt mehr reifen kann. Anders als in der „klassischen Moderne“ bezeichnet es in der Zweiten Moderne keine „ästhetische Revolution“ mehr, nurmehr noch „den Ersatz einer eintönigen, sich immer wieder auffrischenden Pubertät der Kunst“. Aus dem „Reich der Jugend“, das Nietzsche gefordert hatte, ist „Jugendlichkeit als Zwangskultur“ geworden.
Tanz auf den Deponien der verbrauchten, weggeworfenen Güter, Anbetung von shredder-Türmen, nichts wird schneller historisch als Jugendzeiten in der Kunst. Die Nachkriegsperiode wird einmal als die Epoche in die Geschichte eingehen, die zwar die ewige Jugend nicht, dafür aber die ewige Jugendlichkeit als Zwangskultur erfand. Undenkbar, daß in ihr, wie in der klassischen Moderne, ein Künstler seinen Weg (wie T. S. Eliot) von Waste Land zu Four Quartets, (wie Igor Strawinsky) vom Sacre zu Apollon Musagète hätte nehmen können. Das Neuklassische im Wandel eines Werks, das man gegen die wilden Anfänge gerne herabsetzt … und doch sieht man daran, wie sich ein Künstler bewegt und bewegen muß, sobald sein schöpferischer Spielraum die Kunstgeschichte wird und er seine Jugend nicht konservieren will. Es ist der natürliche Weg – wir haben es vergessen in einer
34
Wolfgang Welsch: Unsere postmoderne Moderne. 2. Aufl. Weinheim 1988.
35
Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze. Hrsg. v. Harald Steinhagen u. Jürgen Schröder. Bd. 2. Wiesbaden 1979, S. 225.