Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
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Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Moderne
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Geschichte der deutschen Literatur
Band 1. Humanismus und Barock
Band 2. Aufklärung
Band 3. Goethezeit
Band 4. Vormärz und Realismus
Band 5. Moderne
Gottfried Willems
Geschichte derdeutschen LiteraturBand 5
Moderne
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN · 2015
Gottfried Willems war Inhaber des Lehrstuhls für Neuere undNeueste deutsche Literatur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
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Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Satz: synpannier. Gestaltung & Wissenschaftskommunikation, Bielefeld
Druck und Bindung: Pustet, Regensburg
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in the EU
UTB-Band-Nr. 4249 | ISBN 978-3-8252-4249-7
1 Einleitung
1.1 Moderne Literatur und moderne Welt
Was ist moderne Literatur, und was ist an ihr das Moderne? Dieser Frage soll im folgenden am Beispiel der deutschen Literatur der Jahre 1885 bis 1930 nachgegangen werden, der Literatur der Zeit, in der auch im deutschen Sprachraum eine moderne Kunst Gestalt angenommen und sich ihren Platz im kulturellen Leben erobert hat. Denn an ihr, der Literatur der „Ersten Moderne“, läßt sich das, was Literatur zu moderner Literatur macht, unter seinen Entstehungsbedingungen studieren, und das erlaubt ebensowohl einen besonders sicheren Zugriff auf die sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklungen, die weltanschaulichen Diskussionen und die kreativen Impulse, aus denen sie erwachsen ist, wie einen besonders klaren Blick auf die Themen und Formen, in denen sie sich realisiert hat. Darüber hinaus sollen im folgenden immer einmal wieder Vorstöße bis in die Gegenwart unternommen werden, um die Befunde zu sichern und das Bild abzurunden.
Die moderne Literatur der Jahre 1885 bis 1930 in den Blick zu nehmen – das heißt vor allem von dem zu handeln, was im Umkreis der literarischen Bewegungen des Naturalismus, Symbolismus, Expressionismus und Dadaismus an Neuem entstanden ist. Denn nicht alles, was seinerzeit geschrieben worden ist, nicht einmal der überwiegende Teil, hat modern sein wollen oder können. Das Gros der Literatur ist älteren Modellen des Schreibens verhaftet geblieben, vor allem denen des Realismus, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herangebildet hatten. Zwar ist gerade dieser Realismus von den Verfechtern des Neuen als überholt empfunden und in Grund und Boden kritisiert worden, doch hat er darüber kaum etwas von seiner prägenden Kraft eingebüßt. Die große Masse des Geschriebenen hat sich weiterhin in den Bahnen bewegt, die durch ihn eröffnet worden waren, und dies keineswegs nur in den ersten Jahrzehnten der Moderne, sondern durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch. Noch weite Teile der Buchproduktion der Gegenwart können nicht wirklich modern heißen, lassen sich sehr viel besser von den Traditionen des Realismus her begreifen. Unter dem Titel Symbolismus soll hier auch all das verhandelt werden, was die Literaturgeschichte unter den Begriffen der Décadence, des Fin de siècle, der Jahrhundertwende, der Neuromantik und des Jugendstils verbucht hat, denn was daran modern ist, verdankt sich wesentlich den Modellen des Symbolismus.
Die Jahre von 1885 bis 1930 sind die heroische Zeit der modernen Kunst. Die Welt der literarischen Formen gerät in einem Maße in Bewegung, das die Geschichte noch nicht gesehen hat. Eine Innovation jagt die nächste, ein Experiment löst das andere ab, ja es werden immer wieder Revolutionen ausgerufen, die auf die gesamte Verfassung des kulturellen Lebens zielen, und sie folgen in immer schnellerem Rhythmus aufeinander. Dabei werden die Projekte der Autoren immer kühner; ein Wettbewerb beginnt, bei dem einer den anderen an Radikalität zu überbieten sucht. So kommen nach und nach alle Formen und Elemente der literarischen Rede, alle Konventionen der literarischen Kommunikation und alle Institutionen und Praktiken des literarischen Lebens auf den Prüfstand – kein Stein bleibt auf dem anderen.
Weiten Teilen des Publikums ist darüber Hören und Sehen vergangen. Nicht nur daß nun alles in Zweifel gezogen wird, woran man gewöhnt ist – sobald man sich halbwegs auf etwas Neues eingestellt hat, wird auch das schon wieder für überholt erklärt. Bei vielen ist die Verunsicherung bald größer als die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, und wo sie nicht vollends resignieren und aus der Schule laufen, da verschafft sich ihre Verstörung in Formen von Widerstand Luft, die den aggressiven Gesten und schrillen Tönen der neuen Kunst in nichts nachstehen. Doch was immer dieser von Seiten eines verunsicherten Publikums, irritierter, um ihre Stellung bangender Größen des kulturellen Establishments und einer besorgten Obrigkeit an Steinen in den Weg gewälzt wird – sie läßt sich davon nicht aufhalten. Selbst ein Ereignis wie der Erste Weltkrieg kann sie nicht davon abbringen, auf dem einmal eingeschlagenen Weg weiter voranzuschreiten. So ist schließlich trotz aller Widerstände und Gefahren jener Kosmos neuer Themen und Formen geschaffen und im kulturellen Leben verankert, von dem die moderne Literatur bis heute zehrt.
Wenn in den Jahrzehnten vor und nach der Jahrhundertwende das gesamte Gebäude von Kunst und Literatur auf solche Weise in Bewegung gerät, so entspricht das aufs genaueste dem, was seinerzeit auch überall um sie herum an Dynamik in der Welt ist. Denn in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens bestimmt inzwischen der Fortschritt das Gesetz des Handelns. Sind die treibenden Kräfte der Modernisierung, Wissenschaft und Technik, bereits früher im 19. Jahrhundert schon in eine führende Rolle hineingewachsen, so werden sie nun vollends zu einer alles bestimmenden Macht. Was immer sie an neuen Erkenntnissen und Ideen in die Welt setzen und an neuen Optionen des Handelns und der Lebensgestaltung eröffnen,