Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
Es ist ein Blick, der aus dem Staunen darüber lebt, wie sehr sich die Welt in diesen sechs Jahrzehnten verändert hat, im Guten wie im Bösen. Und die Jahre 1944 und 1945 sind böse Jahre, vielleicht die bösesten, die die Moderne bis dahin gesehen hat. Die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs und seines Weltkriegs läuft auf Hochtouren, die ganze Welt scheint in Trümmer zu sinken. Von hier aus stellen sich die Verhältnisse des Jahres 1886 als „gute alte Zeit“ dar, und seine Literatur als Ausdruck eines Bewußtseins von geradezu atemberaubender Harmlosigkeit. Unter der Oberfläche ist das Neue freilich schon da, jenes Neue, das eine ganz andere Literatur erfordern wird als die bis dahin gepflegte, und es drängt mit Macht ans Licht.
1.2 An der Schwelle zur Moderne – Gottfried Benn: „1886“
Ostern am spätesten Termin,
an der Elbe blühte schon der Flieder,
dafür Anfang Dezember ein so unerhörter Schneefall,
dass der gesamte Bahnverkehr
in Nord- und Mitteldeutschland
für Wochen zum Erliegen kam.
Paul Heyse veröffentlicht eine einaktige Tragödie.
Es ist Hochzeitsabend, die junge Frau entdeckt,
dass ihr Mann einmal ihre Mutter geliebt hat,
alle längst tot, immerhin
von ihrer Tante, die Mutterstelle vertrat,
hat sie ein Morphiumfläschchen:
„störe das sanfte Mittel nicht“,
sie sinkt zurück, hascht nach seiner Hand,
Theodor (düster, aufschreiend):
„Lydia! Mein Weib! Nimm mich mit Dir“! –
Titel: „Zwischen Lipp’ und Kelchesrand.“
England erobert Mandelai,
eröffnet das weite Tal des Irawaday dem Welthandel;
Madagaskar kommt an Frankreich;
Russland vertreibt den Fürsten Alexander
aus Bulgarien.
Der Deutsche Radfahrbund
zählt 1500 Mitglieder.
Güssfeld besteigt zum ersten Mal
den Montblanc
über den Grand Mulet.
Die Barsois aus dem Perchinozwinger
im Gouvernement Tula,
die mit der besonders tiefbefahnten Brust,
die Wolfsjäger,
erscheinen auf der Berliner Hundeausstellung,
Asmodey erhält die Goldene Medaille.
Die Registertonne wird einheitlich
auf 2,8 cbm Raumgehalt festgesetzt;
Übergang des Raddampfers zum Schraubendampfer;
Rückgang der Holzschiffe;
über das chinesische Kauffahrteiwesen
ist statistisch nichts bekannt;
Norddeutscher Lloyd: 38 Schiffe, 63.000 t,
Hamburg-Amerika: 19 Schiffe, 34.200 t,
Hamburg-Süd: 9 Schiffe, 13.500 t.
Turgenjew in Baden-Baden
besucht täglich die Schwestern Viardot,
unvergessliche Abende,
sein Lieblingslied, das selten gehörte:
„wenn meine Grillen schwirren“
(Schubert),
oft lesen sie Scheffel’s Ekkehard.
Es werden entdeckt:
der flügellose Vogel Kiwi-kiwi in Neuseeland,
der augenlose Molch in der Krainer Tropfsteinklamm,
ein blinder Fisch in der Mammuthhöhle von Kentucky.
Beobachtet werden:
Schwinden des Haarkleides (Wale, Delphine),
Weisslichwerden der Haut (Schnecken, Köcherfliegen),
Panzerrückbildung (Krebse, Insekten) –
Entwicklungsfragen,
Befruchtungsstudien,
Naturgeheimnis,
nachgestammelt.
Kampf gegen Fremdwörter,
Luna, Cephir, Chrysalide,
1088 Wörter aus dem Faust
sollen verdeutscht werden.
Agitation der Handlungsgehilfen
für Schliessung der Geschäfte an den Sonntagnachmittagen,
sozialdemokratische Stimmen
bei der Wahl in Berlin: 68 535.
Das Tiergartenviertel ist freisinnig,
Singer hält seine erste
Kandidatenrede.
13. Auflage von Brockhaus’
Konversationslexikon.
Die Zeitungen beklagen die Aufführung
von Tolstoi’s „Macht der Finsternis“,
dagegen ist Blumenthal’s „Ein Tropfen Gift“
eines langen Nachklangs von Wohllaut sicher;
„Über dem Haupt des Grafen Albrecht Vahlberg,
der eine geachtete Stellung in der hauptstädtischen Gesellschaft
einnimmt,
schwebt eine dunkle Wolke“,
Zola, Ibsen, Hauptmann sind unerfreulich,
Salambo verfehlt,
Liszt Kosmopolit,
und nun kommt die Rubrik
„Der Leser hat das Wort“,
er will etwas wissen
über Wadenkrämpfe
und Fremdkörperentfernung.
Es taucht auf:
Pithekanthropos,
Javarudimente, –
die Vorstufen.
Es stirbt aus:
der kleine Vogel von Hawai
für die königlichen Federmäntel:
ein gelber Flaumstreif an jedem Flügel, –
genannt der Honigsauger.
1886 –
Geburtsjahr gewisser Expressionisten,
ferner von Staatsrat Furtwängler,
Emigrant Kokoschka,
Generalfeldmarschall v. W. (†),
Kapitalverdoppelung
bei Schneider-Creuzot, Krupp-Stahl, Putiloff. (GBG 324–326)
Man muß nicht sonderlich viel von Lyrik verstehen, um auf den ersten Blick bereits zu erkennen, daß dieses Gedicht auf das ausgehende 19. Jahrhundert kein Gedicht des 19. Jahrhunderts, daß es ein modernes Gedicht ist. Kein Zweifel – ein Lyriker des 19. Jahrhunderts hätte so noch nicht sprechen können. Wie aber kommen wir zu diesem Urteil? Welche Züge des Gedichts überzeugen uns so rasch davon, daß es der Moderne angehört? Gehen wir zunächst dieser Frage nach, bevor wir uns dem Bild zuwenden, das Benns Gedicht von den Verhältnissen des Jahres 1886 zeichnet. Der geschichtliche Wandel, den wir mit seiner Hilfe in den Blick zu bekommen suchen, wird ja nicht nur in dem greifbar, was es von einem modernen Standpunkt aus über