Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
Da ist zunächst vom Wetter des Jahres 1886 die Rede; das Gedicht hat also einen Beginn, den man bei der älteren Lyrik einen Natureingang nennt. Was dabei an Naturerscheinungen benannt wird, kommt allerdings weniger um seiner selbst willen in den Blick als vielmehr, weil es das zivilisatorische Getriebe durcheinanderbringt, und von diesem wird im folgenden ausschließlich gehandelt.
Die Parade der „zivilisatorischen Realitäten“ beginnt mit einem Theaterstück des uns schon bekannten, von den Modernen des Epigonentums geziehenen Paul Heyse, das intrikate familiäre Verwicklungen zum Gegenstand hat. Sodann ist von der großen Politik die Rede, von der weltweiten Expansion der Kolonialmächte England, Frankreich und Rußland; dann von diversen Formen moderner Freizeitgestaltung, vom Radfahren, Bergsteigen und von der Hundezucht; dann vom Entwicklungsstand der deutschen Handelsflotte; dann von dem überaus kultivierten, kunstbeflissenen Leben des russischen Realisten Iwan S. Turgenjew (1818–1883), ein Leben, das merkwürdigerweise die Beschäftigung mit romantischer Musik und der Dichtung des Romantikepigonen Viktor von Scheffel (1826–1886) mit einbegreift – das soll wohl heißen, daß der Realismus des 19. Jahrhunderts der Vorstellungswelt der Romantik tiefer verhaftet gewesen sei, als er habe wahrhaben wollen – dann von allerlei Entdeckungen der modernen Biologie; dann vom Kampf nationalgesinnter Sprachpfleger gegen Fremdwörter, vom Ringen um ein Ladenschlußgesetz und vom Wahlkampf in Berlin; dann erneut von Literatur, von einer Literaturkritik, die die Banalitäten der Epigonen mit den stärksten Worten feiert, aber ohne jedes Gespür für das Neue ist, wie es sich in den Werken der Naturalisten Emile Zola, Henrik Ibsen (1828–1906) und Gerhart Hauptmann und des Symbolisten Gustave Flaubert (1821–1880), in dessen Roman „Salammbô“ (1863), anbahnt; und dann noch einmal von der modernen Biologie, nunmehr in evolutionärer Perspektive. Der Schlußpunkt wird mit einem Blick auf die boomende Rüstungsindustrie gesetzt, vertreten durch die prominentesten französischen, deutschen und russischen Waffenschmieden, die Firmen Schneider-Creuzot, Krupp und Putiloff.
Das alles wird ohne jedes verbindende Wort hintereinander aufgereiht, wird mit harten Schnitten „montiert“ wie die Seiten einer Zeitung oder die Sequenzen eines Films. Gerade dies wäre einem Lyriker im 19. Jahrhundert niemals in den Sinn gekommen. Sein Ziel war es, ein „organisches Ganzes“ zu schaffen, ein Gebilde, in dem sich alle Teile organisch auseinander entwickeln und harmonisch aneinander anschließen. Diesem Ziel suchte er selbst dort nahezukommen, wo er von einem zerrissenen Ich und einer auseinanderfallenden Welt handelte. Eine bestimmte Grundstimmung, zum Beispiel die des Weltschmerzes oder des Humors, ein bestimmter durchgängiger Gemüts- und Seelenton sollte dafür sorgen, daß sich beim Leser auch bei noch so disparater Motivik am Ende der Eindruck der Einheit in der Vielheit, der Eindruck der Schönheit einstellte.
Von solcher Schönheit hat sich ein Vertreter der Moderne wie Benn offensichtlich verabschiedet; die Welt, deren Bild gezeichnet werden soll, und die Verfassung des Ichs, das sich an ihm versucht, lassen es nicht mehr zu, daß es sich zu einem „organischen Ganzen“ gestaltet. „Das Bewußtsein erträgt im Augenblick nur etwas, das in Bruchstücken denkt“ (GBE 532). Das soll freilich nicht heißen, daß die Begriffe der Schönheit, des „organischen Ganzen“ und des Subjektiv-Erlebnishaften für die moderne Literatur überhaupt keine Bedeutung mehr hätten. Wie Metrum und Vers, Reim und Strophe behalten auch sie ihren Stellenwert; allerdings bezeichnen sie hier nur noch eine Option neben anderen, finden sie sich hier in einem Umfeld wieder, das auch andere Möglichkeiten der literarischen Rede kennt und in dem sie sich im Vergleich mit diesen zu bewähren haben.
Freilich, so heterogen sich der Text von Benns Gedicht auch präsentiert und so hart er die „Erscheinungen der Welt“ aufeinanderprallen läßt – im Zuge der Lektüre bekommen es diese „Erscheinungen“ dann doch miteinander zu tun, erwächst aus dem Kaleidoskop von Aspekten, in denen die Welt des Jahres 1886 aufgerufen wird, nach und nach dann doch ein Gesamteindruck. Die Lesebewegung, das kontinuierliche Fortschreiten von einem zum anderen, hat zur Folge, daß die Motive im Horizont des Lesers miteinander reagieren, daß sie einander wechselseitig kommentieren und sich so zu einem Gesamtbild der geschichtlich-gesellschaftlichen Verhältnisse zusammenschließen.14
Wenn da zum Beispiel zunächst von einem Theaterstück berichtet wird, in dem die Heldin Selbstmord begeht, weil sie nicht verkraften kann, daß ihr zukünftiger Gatte dermaleinst eine Affäre mit ihrer Mutter gehabt hat, und im Anschluß daran von den weltweiten Raubzügen der europäischen Kolonialmächte gehandelt wird, so mag sich der Leser fragen, was das Theater seinerzeit für einen Horizont gehabt habe. Was war das für eine Literatur, die sich die apartesten Verwicklungen und Seelenkonvulsionen einfallen ließ, während sich der Imperialismus mit blutiger Faust den Globus unterwarf? Oder er mag sich umgekehrt die Frage stellen, was eine so geartete Weltpolitik letztlich für das Leben des Einzelnen bedeute, inwieweit sie wirklich an es heran- und in es hineinreiche.
Und so ähnlich wird er auch bei dem nächsten thematischen Sprung reagieren: während in der weiten Welt ein blutiger Beutezug den anderen ablöste, saßen in Berlin Menschen über dem Statut eines Vereins für Radfahrer beisammen und wurden hier Rassehunden Goldmedaillen umgehängt – wie borniert mußte man sein, um angesichts der weltpolitischen Lage mit derlei seine Zeit zu verbringen? Oder umgekehrt: kann die Weltpolitik ein Grund dafür sein, sich solcher harmlosen Aktivitäten zu enthalten? Am Ende all der thematischen Sprünge steht der Leser vor der Frage, wo seinerzeit der Ort gewesen sei, an dem man sich ein Bewußtsein von dem aberwitzigen Auseinanderlaufen der Dinge gab, wo man sich ihm stellte und es mit ihm aufnahm. Die Literatur war offenbar noch nicht dieser Ort, jedenfalls nicht die Literatur, die seinerzeit im Kulturbetrieb den Ton angab.
Auf solche Weise versucht sich Benns Gedicht an einer Bestandsaufnahme der Welt des Jahres 1886, und damit zugleich an einer Diagnose der modernen Welt überhaupt. Mögen die Details, die es benennt, auch andere sein als heute – das Bild, das so entsteht, läßt eine Welt erkennen, wie sie auch heute noch unser Leben bestimmt. Eine Wissenschaft, die mit immer neuen Entdeckungen aufwartet und altgewohnte Vorstellungen von Mensch und Welt infragestellt, eine Technik, die immer weiter dimensionierte Handlungsmöglichkeiten erschließt, die Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe und die kriegerischen Verwicklungen, die sie begleiten, das Mißverhältnis zwischen den globalen Problemen und dem Klein-klein deutscher Provinzpolitik, die Kümmerlichkeiten des Alltags – „Wadenkrämpfe“ – und der Versuch, sie mit melodramatisch aufgedonnerten Freizeitaktivitäten zu kompensieren, die Stürme im Wasserglas eines Kulturbetriebs, der eine Vorliebe für das Mittelmaß hat und allem wirklich Neuen mit der Arroganz der Unsicherheit begegnet – das alles ist uns nur allzu vertraut.
Vor allem erkennen wir in dem Bild, das Benn von der Welt des Jahres 1886 zeichnet, das Moment wieder, das bis auf den heutigen Tag und heute mehr denn je die Struktur der Gesellschaft bestimmt: die institutionelle Differenzierung, das Auseinanderfallen der Gesellschaft in Lebensbereiche, die sich um ein bestimmtes Spezialinteresse herum organisieren und gegen alle anderen Interessen abschotten. Eben in diesem Nebeneinander der Lebensbereiche, wie sie dem Individuum im Laufe seines Lebens, ja an jedem einzelnen Tag ein ständiges Umsteigen von einem zum anderen abverlangt, haben die Verfechter einer neuen Literatur eine zentrale Herausforderung der Kunst in der Moderne erkennen wollen. Ihnen geht es im Grunde überall und immer um das „große Ganze“, um den großen Zusammenhang jenseits der Spezialinteressen und Sonderwelten. Und wo es ihnen nicht gelingt, sich ein Bild von ihm zu machen, da versuchen sie wenigstens, die Frage nach dem „großen Ganzen“ offenzuhalten, so schwer es ihnen die modernen Verhältnisse auch machen mögen. Auch Benn versucht sich in „1886“ letztlich an nichts anderem als an einem Gesamtbild der modernen Welt, ein Versuch, dem die historische Lage der Jahre 1944/45 die Perspektive vorgibt.
Da ist auf der einen Seite der Fortschritt, ist die Modernisierungsmaschine, die sich wie eine gewaltige Dampfwalze immer weiter voranschiebt. Das zivilisatorische Geschäft steht in Blüte, die theoretische Durchdringung und praktische Unterwerfung der Natur schreitet
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Karl Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Stuttgart 1971.