Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
aber die „Macht der Finsternis“ durchaus nicht weichen, ja sie scheint an dem zivilisatorischen Geschäft selbst mit beteiligt, auf eine Weise, die sich immer weniger verbergen läßt, je moderner die Verhältnisse werden. Das deutet sich zunächst in dem an, was von der Politik der europäischen Kolonialmächte berichtet wird, einer Politik, deren Anspruch es ist, die moderne Zivilisation in die Welt zu tragen, und die in Wahrheit den Globus mit Krieg und Ausbeutung überzieht, und es wird vollends am Schluß des Gedichts offenbar: „Kapitalverdoppelung bei Schneider-Creuzot, Krupp, Putiloff“. Eine Entwicklung ist im Gange, deren innerste Triebkraft nicht die Menschheitsbeglückung ist, wie es der Anspruch der Moderne ist, sondern die kriegerische Gewalt und die auf eine große Explosion zusteuert.
Davon wollen die Menschen freilich nichts wissen, und an diesem ihrem Nicht-wissen-Wollen ist die Literatur der Zeit keineswegs unbeteiligt, jedenfalls nicht die vom Kulturbetrieb favorisierte Literatur. Im Gegenteil: sie beschäftigt die Menschen mit Scheinproblemen, versorgt sie mit einem „schönen Schein“, der ihnen dabei hilft, sich über die wahren Probleme hinwegzutäuschen und sich einem naiven Glauben an den Fortschritt hinzugeben. Allerdings melden sich 1886 schon Stimmen zu Wort, die aus dem allgemeinen Konzert des „Wohlklangs“ herausfallen, kritische Stimmen wie die von Tolstoj, von Zola, Ibsen und Hauptmann und von Flaubert. Aus der Perspektive der Jahre 1944/45 ist klar: so „unerfreulich“ ihre Werke auch für die Zeitgenossen gewesen sein mögen – es waren sie, denen die Zukunft der Literatur gehörte. Und zugleich ist klar: ihre Erfolge bei späteren Generationen haben den Lauf der Dinge nicht aufhalten, haben Katastrophen wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg nicht verhindern können.
Soweit Benn und sein Gedicht auf das Jahr 1886. Wie immer man aus heutiger Sicht die Diagnose bewerten mag, die er hier der modernen Welt stellt – es ist eine Diagnose, die von den meisten der Autoren geteilt wurde, die die moderne Literatur auf den Weg brachten. So schätzten sie die Verhältnisse ein, unter denen sie antraten, so die Herausforderungen, mit denen sie es aufzunehmen hätten. Insbesondere waren sie wie Benn der Überzeugung, daß die seinerzeit herrschende Kunst und Literatur versucht hätte, einen „schönen Schein“ aufrechtzuerhalten, der durchaus an den Realitäten der Moderne vorbeigegangen und nichts anderes gewesen wäre als eine einzige große Lüge. Und so machten sie sich auf, um mit dieser Kunst und Literatur zu brechen und etwas Neues, von Grund auf anderes zu versuchen, etwas, das der modernen Welt eher gerecht würde und den Menschen die Augen für sie öffnen könnte.
2 Aufbruch in die Moderne
2.1 Programmatischer Modernismus
2.1.1 Der Begriff „modern“
Grüß Gott und Willkommen! Das Herz zum Gruße
Tut weit euch auf die Sommermuse;
Ja, seht mich nur an, gelehrte Herrn!
Ihr möchtet wohl was Klassisches gern,
Allein, vom Scheitel bis zum Fuße
Bin ich modern, modern, modern!
Ohne Kothurn und Tunika,
Steh ich, ein Mädel von heute, da
Und laß mir mein Heute, mein Heute nicht nehmen,
Will mich in gar nichts Vergang’nes bequemen.
Heut leb ich und lieb ich und heut bin ich jung,
Dem Heute entatm’ ich Begeisterung.
Und ist auch ein Schimpfen
Und Naserümpfen:
Wo ist denn die große
Hellenische Pose,
Das Majestätische,
Donnerpathetische,
Und was man noch sonsten das Klassische nennt:
Das herzheiße Heute ist mein Element.
Drum, was auch die Alten in Ehren gesungen,
Ich liebe die wagemutigen Jungen,
Die durch das bunte Heute schweifen,
Des Lebens lachende Blumen greifen
Und aus des Heute drohenden Schlünden
Sich Stufen zu neuer Helle gründen.
Sie lieb ich ganz und bin ihnen hold,
Zeig ihnen im Heute poetisches Gold:
In den Düsternissen
Sozialer Not,
Wo die Liebe zerrissen
Der Schrei nach Brot,
Wo ein Kämpfen und Kriegen ohn Unterlaß,
Wo die Menschen spaltet ein grimmiger Haß,
Wo allem Herzlichen, allem Schönen
Verzweifelt entgegengellt spöttisches Höhnen:
Da will ich dem Schönen das Wahre versöhnen.
Im Wahren die Schönheit! so finden wir sie:
Die uralt neue, die Poesie.
Mit hellen Augen
Die Schönheit saugen,
An der keine Lüge und Schminke klebt,
All-alles, was lebt,
Mit Herzblut tränken
Und aus in goldenen Schalen schenken.
Das ist es, wonach das Junge strebt,
Das sich enthoben den wurmigen Bänken
Der Formelnschule und Konvention,
Die aller Ehrlichkeit, allem Mute,
Die allem liebsehnsüchtigen Blute
Am Ende geworden papierener Hohn.
Natur! Natur! Dich wollen sie singen,
Tief ein in deine Klarheit dringen,
Durch Wolkengrauen
Und Nebelbrauen
Das warme Herz der Wahrheit schauen
Und wiedergebären in neuem Sange,
Was unter Phrasenhülsen versteckt,
Im Dornröschenschlafe, dornenumheckt
Verborgen gelegen allzulange; –
Zu neuem Lenze sei es erweckt! –
Es muß gelingen! Ich habe gelauscht
Wie’s auferstehungsgewaltig rauscht
In tausend jungen Herzen;
Es drängt heraus, es braust ans Licht,
Es achtet aller Feinde nicht
Und lacht in Werdeschmerzen.
Und wirft’s auch Blasen wirr und wild:
Es klärt, es hellt sich doch das Bild,
Die Farben leuchten und glühen.
Was jetzt noch im Keimen und Schwellen ist,
Aufbrechen wird’s in kurzer Frist,
Zu weitem, buntem Blühen! (MM 134–137)
Mit diesen Versen wird am 13. Juli 1891 in München das Sommerfest einer Vereinigung von Künstlern und Literaten eröffnet, die sich soeben unter dem Namen „Gesellschaft für modernes Leben“ in das Vereinsregister der Stadt hat eintragen lassen. Der Verfasser ist Otto Julius Bierbaum (1865–1910), ein umtriebiger junger Autor, der ständig zwischen den Zentren der Moderne im deutschen Sprachraum, zwischen München, Berlin und Wien unterwegs ist. Er hat gerade eine neue Zeitschrift gegründet, der er den Namen „Modernes Leben“ gegeben hat, und er wird seinen Festprolog in einer Anthologie veröffentlichen, die den Titel „Moderner Musenalmanach“ trägt. Auch die „Gesellschaft für modernes Leben“ hat schon eine eigene Zeitschrift; sie heißt „Moderne Blätter“.
Es ist unschwer zu sehen: das Wort „modern“ hat um 1890 Konjunktur. Offenbar ist es