Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems


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Wunder tut sie ohne Zahl,

      sie lindert jegliches Verhängnis,

      sie setzt den Fuß selbst ins Gefängnis

      und speist die Armut im Spital.

      Wohl wars der Himmel, der sie schuf,

      doch heimisch ward sie längst auf Erden;

      drauf immer heimischer zu werden,

      ist ihr ureigenster Beruf.19

      Die neue Zeit ist keineswegs „der Dichtkunst unwürdig“, wie die Epigonen meinen – im Gegenteil: sie ist voll von Poesie, ja sie ist selbst Poesie im ursprünglichen Wortsinn, ist ein einziges großes „poiein“, ein Schaffen und Machen, über dem sich die menschliche Kreativität auf eine Weise zur Geltung bringt und Spielräume erobert wie nie zuvor. Der Traum der Poeten geht weiter, denn die neue Zeit „träumt“ wie sie „von unentdeckten Welten“, und wie sie tut sie alles dafür, um Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Mit ihrem „Hämmern“ und „Klopfen“ erzeugt sie eine Musik, läßt sie „Melodien“ und Rhythmen erklingen, die die Sinne unmittelbar in ihren Bann ziehen und „das Herz durchlohen“, die den ganzen Menschen ergreifen und in eine Dynamik hineinreißen, die ihn ebensowohl rund um den Globus führen wie ihm die Kraft verleihen kann, den Fortschritt in die „Düsternisse“ von Gefängnissen und Armenhäusern zu tragen.

„Alte und neue Wunder“

      Auf solche Weise tritt Holz der seinerzeit nicht nur unter Epigonen verbreiteten Vorstellung von der „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) durch die moderne Wissenschaft und Technik entgegen. Schon den Brüdern Edmond (1822–1896) und Jules de Goncourt (1830–1870), die ebensowohl zu den Stammvätern des Naturalismus wie zu denen des Symbolismus zählen, war über dem Studium des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe (1809–1849) der Gedanke gekommen, die „Literatur des 20. Jahrhunderts“ werde eine Literatur sein, in der „das wissenschaftliche Wunderbare“ den Ton angebe.20 Der Welt droht in der neuen Zeit keineswegs eine Entzauberung; vielmehr wird sie erleben, daß den „alten Wundern“ „neue Wunder“ an die Seite treten – so gelegentlich auch schon der deutsche Realist Wilhelm Raabe21 – Wunder, die nicht im „Himmel“ geboren werden, sondern „auf Erden“, und deren Darstellung dafür sorgen wird, daß die Poesie „auf Erden immer heimischer“ wird. Denn die moderne Dichtung soll natürlich eine säkulare sein, eine, die mit dem epigonalen Bezug zu Klassik und Romantik noch die letzte Verbindung zum „Himmel“, zu Mythos und Religion gekappt hat.

      So energisch sich Arno Holz aber auch der „alten Krücken“ entledigt und so begeistert er sich der „jungen Zeit“ in die Arme wirft – modern ist sein Gedicht noch nicht, ja es steckt mit seinen liedhaften Strophen noch tiefer in der Überlieferung fest als die Gedichte von Bierbaum und Hofmannsthal. So ist er denn auch bald zu der Überzeugung gelangt, daß ein Moderner keine Lieder mehr schreiben könne – insofern bezeichnet der Untertitel des „Buchs der Zeit“, „Lieder eines Modernen“, nur eine Durchgangsstation in seinem Entwicklungsgang – und hat andere als liedhafte, eben wirklich neue, moderne Töne angeschlagen. Das Ergebnis ist der „Phantasus“ von 1898/99.

      2.1.3 Das Programm der Modernen

      Wie sieht nun das Programm des programmatischen Modernismus im einzelnen aus? Was läßt sich in den Debatten der ersten Generation von Modernen an Vorstellungen und Forderungen ausmachen, die die verschiedenen Gruppen und Grüppchen über alle Differenzen hinweg verbinden? Bei der Antwort mag uns ein weiteres poetologisches Gedicht aus der Frühzeit der Moderne helfen.

Modern

      Modern! Modern! Was will das Wort denn sagen,

      Das heut von Mund zu Mund geschäftig fliegt,

      Mit lautem Weckruf stört das Wohlbehagen,

      Das träg an der Gewohnheit Kette liegt?

      Was will es uns für neue Botschaft bringen,

      Was ist der Sinn, was ist des Pudels Kern?

      Was will dies kühne, kampfesfreud’ge Ringen?

                Was ist modern?

      Modern ist jener Drang zur Neugestaltung,

      Der rücksichtslos die alten Formen sprengt,

      Und allem feind ist, was in der Entfaltung

      Des starken Geistes freie Tat beengt.

      Modern ist jener Trieb, der eigenwüchsig

      Dem Bann der Überlief’rung widersteht

      Und sich nicht beugt in frommem Kinderglauben

      Dem Götzenzauber der Autorität.

      Modern ist jener schönste aller Züge

      In unsrer Zeit freiblickendem Gesicht,

      Der Zug, aus dem der Ekel vor der Lüge,

      Aus dem die Liebe zu der Wahrheit spricht;

      Der alle Täuschung haßt und überwindet

      Der Schmeichelschönheit himmelblauen Dunst, –

      Der nur die Schönheit in der Wahrheit findet,

      Wahrheit im Leben, Wahrheit in der Kunst. (MM 133–134)

      Auch das sind Verse aus dem Umkreis der Münchner „Gesellschaft für modernes Leben“; der Autor ist einer ihrer frühen Vorsitzenden, ein Theaterautor und Kritiker namens Julius Schaumberger (1858–1924). Wie bei Arno Holz und Bierbaum fungiert der Begriff „modern“ bei ihm zunächst und vor allem als ein „Weckruf“, mit dem die Zeitgenossen dem Trott der „Gewohnheit“ entrissen werden sollen, und wie dort wird diesem „Weckruf“ dadurch Nachdruck verliehen, daß ein schroffer Gegensatz zwischen dem Erbe der Vergangenheit und den Erfordernissen der Gegenwart aufgemacht wird.

Der „Bann der Überlieferung“

      Die eine Seite bezeichnet das, was Schaumberger den „Bann der Überlieferung“ nennt, bezeichnet „Vergangenes“, das nicht vergehen will, das auch die Gegenwart bestimmen, sich auch dieser gegenüber mit „Autorität“ zur Geltung bringen will. Sein wichtigster Verbündeter ist die „Gewohnheit“. Sie macht aus der „Überlieferung“ einen Gegenstand des „Wohlbehagens“; als etwas Altbekanntes, Vertrautes erspart sie den Menschen ebensowohl das unangenehme Gefühl der Verunsicherung wie die unbequeme Anstrengung des Umdenkens, die mit dem Aufkommen von Neuem verbunden sind, und das pflegen sie eben mit „Wohlbehagen“ zu quittieren.

      In Kunst und Literatur manifestiert sich der „Bann der Überlieferung“ vor allem in der „Autorität“ der „alten Formen“. Bierbaum nennt diese Formen „klassisch“ und „hellenisch“ und ordnet sie damit dem „Epigonenschweif der Antike“ zu. Zugleich macht er deutlich, daß sie ihre Pflege durch die „Formelnschule“ der Epigonen zu „papiernen“ „Phrasenhülsen“ hat erstarren lassen, die zu nicht mehr taugen, als – in Worten Schaumbergers – „der Schmeichelschönheit himmelblauen Dunst“ zu erzeugen, als einen „schönen Schein“ zu unterhalten, der zwar dem Bedürfnis nach „Wohlbehagen“ entgegenkommt, bei dem aber die „Wahrheit“ auf der Strecke bleibt, der letztlich nichts anderes ist als „Schminke“, „Täuschung“ und „Lüge“.

Ein „Drang zur Neugestaltung“

      Dem wird ein „Drang zur Neugestaltung“ gegenübergestellt, der den „Bann der Überlieferung“ zu brechen sucht und überhaupt aller „Autorität“ den Kredit aufkündigt. Nicht „Gewohnheit“ und „Konvention“, sondern das Ungewöhnliche, Unkonventionelle soll nun die Sache von Kunst und Literatur sein, was immer darüber aus dem Bedürfnis des Publikums nach „Wohlbehagen“ werden mag. Das heißt vor allem, daß die „alten Formen“ „gesprengt“ werden sollen, auch bestens beleumdete und bewährte Formen, ja gerade sie; daß neue, „eigenwüchsige“ Formen


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<p>19</p>

Arno Holz: Zum Eingang. In: ders.: Das Werk. Hrsg. v. Hans W. Fischer. Bd. 1. Berlin 1924, S. 3–12.

<p>20</p>

Edmond und Jules de Goncourt: Tagebücher. Frankfurt 1983, S. 54.

<p>21</p>

Wilhelm Raabe: Pfisters Mühle. Frankfurt 1985, S. 9.