Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems

Geschichte der deutschen Literatur. Band 5 - Gottfried Willems


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wollte, hinwegzuräumen, mühte mein Geist sich Tag und Nacht. Ich sah wohl das Epigonentum, sah alle die unfruchtbaren Nachahmer und grübelte nach über die Ursachen ihrer Unfruchtbarkeit. War ich nicht auch auf dem besten Wege dazu?

      Da leuchtete mir am Himmel ein Pünktchen auf wie ein Stern. Wenn du ein alter Mann geworden bist, und du hast ein Leben lang den großen Dichtern und ihren Höhenprodukten nachgestrebt, so wirst du vielleicht einmal etwas ganz von ihnen Verschiedenes, etwas unmittelbar Erdnahes hervorbringen.

      Weiter im Anschluß hieran, also dieser verstiegenen Hoffnung verbunden, kam es mir vor, als ob alle Epigonen und auch wir den Boden unter den Füßen verloren hätten. Die Dichtwerke reihten sich horizontal, meinethalben wie Perlen an einem Faden sich reihen. Eine vertikale Ausdehnung hatten sie nicht. Bildlich gesprochen: sie hingen und saugten einander aus wie Vampire, statt wie Bäume getrennt zu stehen und Nahrung mit einem gesunden Wurzelsystem aus der Erde zu trinken.

      Wie steht es mit dir nun? fragte ich mich.

      Auch du bist ins Himmelblaue entrückt und hast höchstens einige kurze Luftwurzeln. Ob sie die Erde jemals erreichen und gar in sie eindringen können, weißt du nicht.

      Jetzt aber hatte ich plötzlich die Kühnheit, nach allem Profanen, Humus- und Düngerartigen um mich zu greifen, das ich bisher nicht gesehen, weil ich es nicht für würdig erachtet hatte, in Bereiche der Dichtkunst einzugehen. Und abermals wie im Blitz erkannte ich meine weite und tiefe Lebensverwurzelung und daß es ebendieselbe sei, aus der mein Dichten sich nähren könne. (…)

      So und nicht anders verlief der innere Zauber, der mich zu einem gesunden, verwurzelten Baum machte.

      Und als ich „Die Macht der Finsternis“ von Leo Tolstoi gelesen hatte, erkannte ich den Mann, der im Bodenständigen dort begonnen, womit ich nach langsam gewonnener Meisterschaft im Alter aufhören wollte.

      Und wie man eine Statue, die auf dem Kopf steht, auf die Füße stellt, so war es mir klar, daß ich mit der Scholle und ihren Produkten sogleich mein Werk beginnen müsse, statt im Alter es zu vollenden.

      Was ging das Geschwätz vom Naturalismus mich an? Aus Erde ist ja der Mensch gemacht, und es gibt keine Dichtung, ebensowenig wie eine Blüte und Frucht, sie sauge denn ihre Kraft aus der Erde!

      Dieser Gedanke stand kaum gefestigt in mir, als ich aus einem Borger, ja Bettler, ein recht wohlsituierter Gutsbesitzer geworden war.18

      Die Wende kommt mit der Einsicht in den epigonalen Charakter der eigenen Versuche und der Kultur, die zu solchen Versuchen verleitet hat, kommt mit dem Begreifen dessen, was Epigonentum heißt. Die Basis des Epigonentums ist ein Kult des Klassischen, hier der zur Deutschen Klassik verklärten „Goetheschen Kunstperiode“, der sich dank der Arbeit von Literarhistorikern wie Georg Gottfried Gervinus (1805–1871) bis zum „Irrwahn“ gesteigert hat, der nämlich dazu geführt hat, daß sich die Literatur ganz in ihre eigene Überlieferung eingeschlossen und gegen die Lebenswirklichkeit um sie herum abgeschottet hat, daß sie diese Lebenswirklichkeit, die doch das einzige ist, wovonher ein Autor auf originelle, persönliche Weise produktiv werden kann, als „profan“ und „der Dichtkunst unwürdig“ abgetan hat, um nur noch mit dem Erbe der Klassik, mit Angelesenem und Anempfundenen, „Erborgtem“ und „Erbetteltem“ zu wirtschaften. In dem Moment, in dem der Autor erkennt, daß er mit der eigenen Lebenswirklichkeit einen Stoff in Händen hält, der sehr wohl „der Dichtkunst würdig“ ist, weil er alles in sich begreift, was Menschenleben und Menschenschicksal ausmacht, und der es überdies so in sich begreift, daß es ihm unmittelbar, auf lebendige, die Sinne und das Gefühl ansprechende Weise zugänglich ist – in eben diesem Moment ist der Bann gebrochen.

      Hauptmann faßt die Sphäre, mit der seine literarische Arbeit über dem Innewerden seiner „tiefen Lebensverwurzelung“ in Fühlung gekommen ist, in Wendungen wie „Boden“, „Erde“ und „Scholle“, „Humus“ und „Dünger“, doch ist das, wie er eigens hervorhebt, nur „bildlich gesprochen“. Er zielt damit keineswegs auf die Natur und das Landleben, sondern auf die Lebenswelt des modernen Menschen, auf die Realitäten des modernen Lebens. Daran lassen die Werke, die auf die Wende folgen, keinen Zweifel. Das erste Ergebnis der Neuorientierung ist das schon erwähnte „soziale Drama“ „Vor Sonnenaufgang“, und das führt auf einen zentralen Schauplatz der industriellen Revolution in Deutschland, einen, den Hauptmann aus eigener Anschauung kennt, in das schlesische Kohlerevier; es führt mithin an einen Brennpunkt des sozialen Wandels, in Worten Bierbaums: in die „Düsternisse sozialer Not“.

Bekenntnis zur neuen Zeit

      Klarer als in Hauptmanns Bericht spricht sich die Ausrichtung der neuen Literatur auf die „zivilisatorischen Realitäten“ der Moderne in den programmatischen Äußerungen des Autors aus, dem Hauptmann „Vor Sonnenaufgang“ gewidmet hat, bei Arno Holz (1863–1929), etwa in dem poetologisch-programmatischen Gedicht „Zum Eingang“, mit dem Holz sein „Buch der Zeit“ (1886) eröffnet. Das Ziel, „unter allen Epigonen (…) der allerletzte“ zu sein, das gleich in der ersten Strophe formuliert wird, rückt auch bei Holz in eben dem Moment in greifbare Nähe, in dem er sich seiner „tiefen Lebensverwurzelung“ in der modernen Welt bewußt wird, in dem er nämlich erkennt, daß es einzig die „junge Zeit“ ist, die ihn zum Dichten animiert, auch wenn es eine „Zeit aus Blut und Eisen“ ist. Aber auch so, ja gerade so spricht sie seine Sinne und sein Herz an, setzt sie seine Phantasie in Gang – etwas, das die Epigonen von Klassik und Romantik für unmöglich gehalten haben.

      Mir schwillt die Brust, mir schlägt das Herz

      und mir ins Auge schießt der Tropfen,

      hör ich dein Hämmern und dein Klopfen

      auf Stahl und Eisen, Stein und Erz.

      Die poetische Welt der Epigonen hingegen, all die Verse

      (v)on Wein und Wandern, Stern und Mond,

      vom „Rauschebächlein“, vom „Blauveilchen“,

      von „Küßmichmal“ und „Warteinweilchen“,

      von Liebe, „die auf Wolken thront“(,)

      lassen ihn kalt. Nicht nur, daß sie von den Hot Spots des modernen Lebens wegführen, man hört ihnen auch an, daß sie nicht authentisch sind, daß es sich bei ihnen um „längst ergossene Ergüsse“ handelt, um „alte taube Nüsse“ und „aufgewärmten Sauerkohl“.

      Nein, mitten nur im Volksgewühl,

      beim Ausblick auf die großen Städte,

      beim Klang der Telegraphendrähte

      ergießt ins Wort sich mein Gefühl.

      Dann glaubt mein Ohr, es hört den Tritt

      von vorwärts rückenden Kolonnen,

      und eine Schlacht seh ich gewonnen,

      wie sie kein Feldherr noch erstritt (…)

      – die große Schlacht des Fortschritts.

      Denn süß klingt mir die Melodie

      aus diesen zukunftsschwangern Tönen;

      die Hämmer senken sich und dröhnen:

      Schau her, auch dies ist Poesie!

      Sie kehrt nicht nur auf ihrem Gang

      in Wälder ein und Wirtshausstuben,

      sie steigt auch in die Kohlengruben

      und setzt sich auf die Hobelbank.

      Auch harft sie nicht als Abendwind

      nur in zerbröckelten Ruinen,

      sie treibt auch singend die Maschinen

      und pocht und hämmert, näht und spinnt.

      Sie schaukelt sich als schwanker Kahn

      im blauen, schilfumkränzten Weiher,

      sie schlingt den Dampf ums Haupt als Schleier

      und


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<p>18</p>

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend. Frankfurt Berlin 1993, S. 716–718.