Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
um das Verkehrs- und Kommunikationswesen, die Sphäre der Politik und des staatlichen Verwaltungshandelns oder die Lebenssphäre des Einzelnen, die Art und Weise, wie die Menschen wohnen, sich kleiden, sich ernähren, für ihr Wohlergehen sorgen und ihre Beziehungen gestalten – alles unterliegt nun einem Wandel, dessen Richtung und Geschwindigkeit Wissenschaft und Technik vorgeben.
Wo aber so viel um die Menschen herum in Bewegung ist, da kann es nicht ausbleiben, daß sie sich nach einem ruhenden Pol umsehen, nach etwas Bleibendem, an das sie sich in all dem Wandel halten könnten. Am Ende des kunstgläubigen 19. Jahrhunderts richtet sich der suchende Blick gerade auch auf Kunst und Literatur. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ (Hölderlin) – was sollte sich in dem Kulissenwirbel der Moderne als ein Hort bleibender Werte bewähren, wenn nicht die Kunst? Der konservative Teil der literarischen Intelligenz ist dieser Erwartung nach Kräften entgegengekommen, nicht jedoch die Protagonisten der Moderne, und es ist vor allem dies, womit sie sich die Gefolgschaft des breiten Publikums verscherzt haben. Für sie steht fest, daß nur eine Kunst eine Zukunft hat, die mit der Dynamik der Modernisierung mithält, und nicht nur mithält, die sich an die Spitze der Bewegung setzt und als revolutionärer Vorreiter alles wahrhaft Neuen dem Fortschritt die Richtung vorgibt. Von der modernen Literatur der Jahre 1885 bis 1930 zu sprechen heißt, von lauter selbsternannten Avantgardisten zu sprechen.
Demgemäß hat sich die Literatur hier in ein einziges großes Experimentierfeld verwandelt, in eine Art Laboratorium, in dem unentwegt neue Ideen ausgedacht und erprobt werden. Nicht umsonst haben bereits die ersten Naturalisten den Begriff des Experiments aus den Wissenschaften und den der Revolution aus der Politik übernommen, um ihre literarische Arbeit zu kennzeichnen. So nennt die Leitfigur des europäischen Naturalismus, der französische Autor Emile Zola, seinen Roman einen „Experimentalroman“, und der deutsche Naturalist Arno Holz spricht von einer „Revolution des Dramas“ und einer „Revolution der Lyrik“. Die Literatur wird experimentell; sie beginnt, mit den literarischen Formen und den Praktiken des literarischen Lebens, ja mit der Sprache selbst zu experimentieren.
Dabei ist in der Tat ungemein viel Neues entstanden, vielfach grundstürzend Neues, in der Literatur nicht weniger als in den anderen Künsten. Man kann das Ausmaß des Wandels unschwer erfassen, indem man sich vor Augen stellt, was um 1885 an Neuem geschaffen worden ist und was um 1930. In der Architektur dominieren um 1885 noch immer die Formen des Historismus, wie sie mit Säulenordnungen und ornamentalem Baudekors im Stil einer Neugotik, einer Neurenaissance, eines Neubarock oder Neurokoko letztlich noch immer von der Baukunst der Antike und des Mittelalters zehren; um 1930 hat bereits die Bauhaus-Ästhetik ihren Siegeszug angetreten, um mit den letzten Resten des Historismus tabula rasa zu machen und eine Baukunst zu etablieren, die ganz auf die Geometrie des Baukörpers und die Materialität von Baustoffen wie Beton, Stahl und Glas setzt. In der Malerei feiern um 1885 die Münchner und Düsseldorfer Realisten ihre großen Erfolge, mit farbenfrohen Landschaften, Genreszenen und Porträts, mit denen sie selbst die Fotografie an „Lebensechtheit“ zu übertreffen suchen; um 1930 hat sich bereits eine abstrakte Malerei etabliert. Und was die Musik anbelangt, so komponieren um 1885 noch die großen Spätromantiker Johannes Brahms, Anton Bruckner und Richard Wagner; um 1930 beherrschen Neutöner wie Arnold Schönberg und Igor Strawinsky die Szene.
Nicht anders steht es um die Literatur. Um 1885 sind noch immer einige der namhaften Realisten aktiv, etwa Theodor Fontane, Conrad Ferdinand Meyer und Wilhelm Raabe, ja Fontane hat sich gerade erst angeschickt, die lange Reihe von Romanen zu konzipieren, mit denen er in Erinnerung geblieben ist. Und noch angesehener sind beim breiten Publikum Männer wie Paul Heyse und Emanuel Geibel, Autoren, die von den Neuerern Epigonen genannt werden, weil sie, noch hinter den Realismus zurückgreifend, aus dem Erbe von Klassik und Romantik schöpfen. Und um 1930 sind es Autoren, die wir heute unter die Klassiker der Moderne rechnen, sind es Heinrich und Thomas Mann, Rainer Maria Rilke und Gottfried Benn, Bertolt Brecht und Alfred Döblin, deren Werke die literarische Öffentlichkeit beschäftigen, und das größte aller Experimente, der Dadaismus, steht bereits abgeschlossen vor den Augen des Publikums – eine andere Welt!
Fast alles, was sich die moderne Kunst und Literatur an neuen Möglichkeiten erschlossen hat, hat sie sich in den ersten fünf Jahrzehnten ihrer Geschichte erobert. Spätere Generationen haben dem nur wenig Neues hinzufügen können, jedenfalls nur wenig Neues von grundlegender Bedeutung, sind die frühen Modernen in ihrer Radikalität doch fast überall bis ans Ende des Möglichen gegangen. So hat sich die Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts weithin im Kreis der von ihnen eröffneten Optionen bewegt, was einige Beobachter geradezu von einem Prozeß der „Kristallisation“ (Arnold Gehlen) sprechen ließ. Jedenfalls kann man bereits an der Literatur der Jahre 1885 bis 1930 studieren, was Moderne heißt, und kann man es hier vielfach besser studieren als an späterer Literatur, da sich in der Konstituierung und Formierung des Neuen seine Grundlagen und Grundformen besonders deutlich zeigen, deutlicher jedenfalls als dort, wo die Errungenschaften der Moderne bereits als gegeben vorausgesetzt und lediglich benutzt werden. Und darum kann das Studium der frühen Moderne auch bei der Beschäftigung mit jüngerer Literatur weiterhelfen, bis hin zur Literatur der Gegenwart.
Gegen Ende der zwanziger Jahre, also noch bevor der Nationalsozialismus in Deutschland die Macht an sich reißt und seine Hand auf das kulturelle Leben legt, läßt die Dynamik der Modernisierung allmählich wieder nach, nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern, die an der Entwicklung der modernen Kunst und Literatur teilhaben. Man scheint fürs erste genug der Avantgarden gesehen zu haben, scheint der Revolutionen und Experimente überdrüssig zu sein und geht wieder auf stabilere Strukturen und klarere Konturen aus. Dabei scheuen sich auch die Protagonisten der Moderne nicht vor Rückgriffen auf vormoderne Formen; selbst ihre Werke nehmen nun vielfach die Züge eines Neorealismus, ja eines Neoklassizismus an.
Zugleich sucht sich das Bemühen um festere, transparentere Formen in Philosophie und Wissenschaft eine Stütze zu geben. Das zeigt sich etwa in einer neuen Blüte des literarischen Essays und einer neuen Offenheit des literarischen Texts für theoretische Diskurse; man denke nur an die großen Romane von Robert Musil und Hermann Broch oder an das Theater von Bertolt Brecht. Die Literaturgeschichte verhandelt diese Phase der Geschichte der Moderne meist unter dem Titel der Neuen Sachlichkeit, eine Wendung, die auf die zeitgenössische Theorie der Bildenden Kunst zurückgeht und mit der diese auf den Neorealismus und dessen Rückkehr zu konsistenteren Formen der Gegenständlichkeit zielt.
In der Zeit des Dritten Reichs, unter der Knute des Nationalsozialismus muß die moderne Kunst und Literatur dann ins Exil ausweichen oder sich in einer „inneren Emigration“ verkriechen. Darüber geht ihr der revolutionäre Elan fast völlig verloren. Exil und „innere Emigration“ sind avantgardistischen Konzepten wenig günstig; wer um seine geistige Selbstbehauptung, ja um das Lebensnotwendige zu kämpfen hat, der sucht vor allem etwas von dem festzuhalten, was er sich bereits errungen hat, dem steht der Sinn nicht nach Experimenten, zumal er nun auch den Resonanzraum einer demokratischen Öffentlichkeit entbehren muß, ohne den das künstlerische Experiment eine Totgeburt bleibt.
Denn die moderne Kunst ist auf die moderne Öffentlichkeit angewiesen; sie kann sich nur dort entfalten, wo sie jene Form des öffentlichen Lebens vorfindet, die zu einem demokratisch verfaßten, zumindest von dem Streben nach Demokratie durchpulsten Gemeinwesen dazugehört, jene mediale Öffentlichkeit, die an allem interessiert ist, worüber sich kontrovers diskutieren läßt, die von immer neuen Aktualitäten, immer neuen Events lebt, um nicht zu sagen: von Provokation und Skandal. Das zeigt sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Hitler-Diktatur besonders deutlich. In eben dem Maße, in dem die westdeutsche Gesellschaft zu demokratischen Verhältnissen zurückfindet und sich ein entsprechendes öffentliches Leben gibt, können Kunst und Literatur zu modernen Formen zurückkehren, können sich erneut Avantgarden heranbilden, kann das Spiel der künstlerischen Revolutionen und Experimente noch einmal von vorn beginnen – die Zweite Moderne. Im Osten Deutschlands hingegen, in der DDR, bleiben die Möglichkeiten einer modernen Kunst und Literatur wegen der Staatsdoktrin des „Sozialistischen Realismus“ und einer auf diese Doktrin eingeschworenen Zensur lange Zeit eng begrenzt.