Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Gottfried Willems
in die Wirklichkeit der Großstadt dazu verhelfe „zu leben, zu fühlen, daß ich bin und was ich bin“. Dabei bleibt es jedoch nicht. Rilke kehrt nach Paris zurück und arbeitet sich Schritt für Schritt an eine Großstadtdichtung heran, wie sie Baudelaire gefordert hatte. Davon zeugen zunächst seine „Neuen Gedichte“ (1907/08) und sodann der Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ (1910), ein Werk, das alle Züge eines modernen Großstadtromans aufweist. In ihm bekennt sich Rilke – gerade er, der von seinen Kritikern gern als Schoßhund der Gesellschaft abgetan worden ist – zum Modell des Dichters als armer Hund, als „chien flâneur“, der in den Straßen der großen Stadt herumirrt und eben hier, inmitten des urbanen „Durcheinanders“ und in enger Fühlung mit Elend und Schmutz seine entscheidenden Erfahrungen macht, Erfahrungen, die ihn – mit Rilkes eigenem Wort – immer „seiender“ werden lassen.
Da befinden wir uns freilich bereits im Jahr 1910, an der Schwelle zum Expressionismus, und das ist der Moment, in dem die deutsche Literatur endgültig und in all ihren Formen in die moderne Großstadt einzieht, auch im Gedicht.57 Das bedeutet jedoch nicht, daß man die Welt der Großstadt nun sehr viel anders sehen würde als in den Jahrzehnten zuvor – im Gegenteil: gerade für den Frühexpressionismus ist sie weiterhin und mehr denn je eine Welt von monströser „Häßlichkeit“ und „Gemeinheit“, ein Ort des Gehetztseins und der Lebensangst; gerade für ihn bleibt sie die „ungeheure Dirne“ mit dem „infernalischen Charme“. Doch will man nun überall eingesehen haben, daß sie auch so, als „Hure Babylon“, der Kunst mehr zu bieten habe als die Unschuld vom Lande und die Sennerin auf der Alm. In der großen Stadt entscheidet sich das Schicksal der Menschheit, im Guten wie im Bösen, und so kann es für eine Literatur, die auf sich hält, die an diesem Schicksal teilhaben und es mitgestalten will, keinen anderen Platz mehr geben als sie.
Der Umschwung wird in zwei Gedichten aus den Jahren 1907 und 1910 besonders gut greifbar, von denen das zweite eine Replik auf das erste ist. Das frühere Gedicht stammt aus der Feder von Richard Dehmel (1863–1920),58 einem Autor, dessen Werk irgendwo im Niemandsland zwischen Naturalismus, Symbolismus und Expressionismus angesiedelt ist und der damit in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer führenden Figur des literarischen Lebens wurde; auch heute wird er vielfach noch als Inbegriff des Jugendstils gehandelt. Bei Dehmel manifestiert sich noch einmal jenes abgrundtiefe Unbehagen gegenüber der großstädtischen Lebensweise, das sich nichts Besseres vorzustellen vermag, als den mit der Modernisierung einhergehenden Zug der Menschen in die Städte umzukehren und die Menschen auf das Land zurückzubringen, dahin, wo sie wieder das „Atmen der Erde“ spüren können. Das ist ein Traum, der gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch einmal von vielen geträumt worden ist, der etwa auch von der Lebensreform-Bewegung59 kultiviert wurde und der zum Beispiel zum Bau von „Gartenstädten“ führte.
Ja, die Großstadt macht klein.
Ich sehe mit erstickter Sehnsucht
durch tausend Menschendünste zur Sonne auf;
und selbst mein Vater, der sich zwischen den Riesen
seines Kiefern- und Eichen-Forstes
wie ein Zaubermeister ausnimmt,
ist zwischen diesen prahlenden Mauern
nur ein verbauertes altes Männchen.
O laßt euch rühren, ihr Tausende!
Einst sah ich euch in sternklarer Winternacht
zwischen den trüben Reihen der Gaslaternen
wie einen ungeheuern Heerwurm
den Ausweg aus eurer Drangsal suchen;
dann aber krocht ihr in einen bezahlten Saal
und hörtet Worte durch Rauch und Bierdunst schallen
von Freiheit, Gleichheit und dergleichen.
Geht doch hinaus und seht die Bäume wachsen:
sie wurzeln fest und lassen sich züchten,
und jeder bäumt sich anders zum Licht.
Ihr freilich, ihr habt Füße und Fäuste,
euch braucht kein Forstmann erst Raum zu schaffen,
Ihr steht und schafft euch Zuchthausmauern –
so geht doch, schafft euch Land! Land! rührt euch!
vorwärts! rückt aus! – (DG 58–59)
Dehmels Gedicht peilt einen Standort jenseits der Politik an, doch gibt es gerade damit zu erkennen, daß seine Kritik an der Großstadt eine politische Seite hat. Politisch ist an ihm eben die Art und Weise, wie es die Politik verwirft, die dem „Großstadtvolk“ zur Verbesserung seiner Lebensverhältnisse angedient wird. Dabei dürfte Dehmel vor allem an die Arbeiterbewegung
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