Der Wiener Kongress. Reinhard Stauber
ward.“15 Im gleichen Artikel des Vertragsentwurfs waren folgende Grundsatzdispositionen bezüglich der Nachbarländer Frankreichs vorgesehen: Deutschland solle aus unabhängigen Staaten bestehen, miteinander verbunden durch ein „föderatives Band“ („lien fédératif“). Italien werde ebenfalls wieder aus unabhängigen Staaten bestehen; Holland sei zu vergrößern und der Souveränität des Hauses Oranien zu unterstellen. Spanien solle unter der Herrschaft des von Napoleon bereits anerkannten Bourbonenkönigs Ferdinand VII. in seinen alten Grenzen wiederhergestellt werden, ebenso die Schweiz, deren Status als „unabhängiger Freistaat“ („État libre, indépendant“) von allen Großmächten garantiert würde. Eine Rückgabe der meisten Überseebesitzungen an Frankreich wurde in Aussicht gestellt; die Briten sicherten sich allerdings Mauritius, die Îles des Saintes (Teil der Kleinen Antillen südlich von Guadeloupe), Tobago und Malta.
Napoleon aber hatte nach seinen militärischen Erfolgen in der ersten Februarhälfte das Interesse an Verhandlungen verloren und Caulaincourt am 17. Februar alle Verhandlungsvollmachten entzogen. Die Alliierten warteten drei Wochen, ohne eine verbindliche Antwort aus Paris auf ihren Vorschlag zu erhalten. Nach Prag im Sommer 1813 verspielte Napoleon im Spätwinter 1814 ein zweites Mal bewusst den Frieden – dieses Mal trotz eines deutlich ausformulierten Verhandlungsangebots, trotz der mehrfachen Warnungen seines Außenministers und im Angesicht von Feindestruppen im eigenen Land.
Die Verhandlungen mit Caulaincourt waren eben wieder aufgenommen, als Außenminister Castlereagh konkrete Schritte einleitete, um sein [<<30] schon angesprochenes politisches Hauptziel zu realisieren: ein langfristiges Verteidigungsbündnis zwischen den Mächten Europas, das den Frieden mit Frankreich nicht nur erzwingen, sondern auch auf lange Sicht absichern sollte, „ein Vorgang ohne Beispiel in der europäischen Staatengeschichte.“ 16 Die unsichere Situation der ersten Märztage des Jahres 1814 im Warten auf eine Antwort des Empereur (für die eine Frist bis zum 10. März gesetzt worden war) kam der Verwirklichung dieses Plans entgegen.
Kurze Verhandlungen am neuen Ort des alliierten Hauptquartiers in Chaumont führten zu jenem wichtigen Vertrag, der am 9. März 1814 abgeschlossen und auf den 1. März rückdatiert wurde. Österreich (vertreten durch Metternich), Russland (Nesselrode), Großbritannien (Castlereagh) und Preußen (Hardenberg) verbanden sich darin auf die Dauer von 20 Jahren zur sog. „Quadrupelallianz“.17 Diese Allianz diente einem doppelten Zweck: der Absprache von Regelungen zur Fortsetzung des Feldzugs einerseits, der langfristigen Sicherung des mit Frankreich zu schließenden Friedens andererseits. Ihrer Intention nach war sie ein „Instrument zur Erzwingung der Vertragstreue Napoleons“ und spiegelte die Grunderfahrung Europas mit der Rücksichtslosigkeit wider, mit der der Empereur sich „über die Spielregeln der Staatengemeinschaft hinweggesetzt hatte.“18 Falls Napoleon den alliierten Friedensvorschlägen nicht zustimmen würde, solle der Krieg in enger Abstimmung unter den Alliierten („dans un parfait concert“) fortgesetzt werden. Jede der Mächte solle dafür mindestens 150.000 Mann unter Waffen halten; die Briten zahlten für ihren Anteil den anderen Mächten eine Ablöse von fünf Mio. Pfund für das Jahr 1814. Separate Verhandlungen oder Vertragsabsprachen mit dem Gegner wurden untersagt. Nach einem Friedensschluss sollte jede Macht weiterhin 60.000 Soldaten unter Waffen halten, um neuen Angriffen Frankreichs rasch und effektiv entgegen zu treten. Gleichzeitig behielten sich die Alliierten das Recht vor, gemeinsam [<<31] über die geeignetsten Maßnahmen zu beraten, um Europa und sich untereinander die Einhaltung dieses Friedens zu garantieren. Um den im Friedensangebot angesprochenen Territorialregelungen besonderen Nachdruck zu verleihen, sollten Spanien, Portugal, Schweden und der Fürst von Oranien als designierter Herrscher der Niederlande eingeladen werden, der Allianz beizutreten.
2.4 Die Abdankung Napoleons
Trotz wiederholter Warnungen Caulaincourts zeigte Napoleon keine Bereitschaft, in Châtillon ernsthaft zu unterhandeln. Am letzten Tag der Frist verlangte er eine Rückkehr der Alliierten zu den Vorschlägen von Frankfurt, und erst am 15. März konnte der französische Minister einen schriftlichen Gegenvorschlag vorlegen, in dem der Verzicht auf die Illyrischen Provinzen, auf das rechte Rheinufer und die Gebiete südlich der Alpen formuliert waren. Da der Kaiser gleichzeitig seine Truppen östlich von Paris in einer Weise umgruppierte, die einen Vorstoß gegen die alliierten Nachschublinien erwarten ließ, brachen die vier Mächte am 19. März die Verhandlungen ab und einigten sich einige Tage später darauf, den Vormarsch auf Paris fortzusetzen (Plancy 24. März).19 Dies entsprach den Planungen Talleyrands in der Hauptstadt, der nur in einem Sturz Napoleons die Chance sah, für Frankreich Stabilität zu erreichen. Von Vitry-le-François aus erließen die Mächte im Namen einer „Europäischen Liga“ („ligue Européenne“) eine Erklärung, in der sie die Rückführung Frankreichs auf die Grenzen von 1792 mit dem Hinweis auf das aggressive Ausgreifen Napoleons auf dem Kontinent und auf die Erhebung neuer Souveräne aus seiner Familie rechtfertigten.20
Der Durchbruch der beiden jetzt vereinigten Armeen Schwarzenbergs und Blüchers bei Fère-Champenoise am 25. März öffnete den Alliierten den Weg nach Paris, um das am 29./30. gekämpft wurde, [<<32] während die Regentin Kaiserin Marie Louise und der Regentschaftsrat unter Joseph Bonaparte die Stadt verließen. Am letzten Märztag 1814 kapitulierte Marschall Marmont und übergab die Hauptstadt gegen Zusicherung freien Abzugs, Napoleon wich nach Fontainebleau aus, und um 10 Uhr vormittags zogen Zar Alexander, König Friedrich Wilhelm III. und Feldmarschall Schwarzenberg durch die Stadt Richtung Place de la Concorde.
Die politische Initiative ergriff jetzt Talleyrand, der seit seinem persönlichen Bruch mit Napoleon Anfang 1809 auf dessen Sturz hingearbeitet hatte. Eine Konferenz, die noch am Nachmittag des 31. März in seinem Wohnhaus in der Rue Saint-Florentin stattfand und an der der Zar, der preußische König und Schwarzenberg teilnahmen, traf die Entscheidung, im Sinn des Prinzips der Legitimität den rechtmäßigen Thronfolger aus dem Haus Bourbon, Louis Stanislas Xavier von Frankreich, Graf von Provence, zurückzuholen, allerdings nicht als absoluten, sondern als konstitutionellen Herrscher. Der Zar machte diesen Grundsatzbeschluss in einer auf den 2. April datierten Proklamation bekannt, in der er – zur nicht geringen Bestürzung Castlereaghs und vor allem Metternichs, die erst am 10. April nach Paris kamen – über die bisherigen Beschlüsse der Alliierten weit hinausging und eine klare Alternative formulierte: Die Person Napoleons sei das entscheidende Hindernis für den Frieden; weder mit dem Kaiser noch mit einem Mitglied seiner Familie würden die Alliierten künftig mehr verhandeln. Die Franzosen hätten „die Wahl … zwischen ihrem Kaiser und dem Frieden.“ Die Rückkehr der bourbonischen Könige wurde noch nicht erwähnt.21
Der Senat setzte am 1. April eine provisorische Regierung ein, der Talleyrand vorstand. Sie erarbeitete innerhalb einer Woche eine neue, provisorische Verfassung, die ein erbliches, konstitutionelles Königtum der Bourbonen vorsah. Auf dieser Basis erklärte der Senat am 3. April 1814 Napoleon als Kaiser der Franzosen für abgesetzt. Eine Nachfolge aus dem Kreis der Familie Bonaparte wurde ausgeschlossen. Das zentrale [<<33] politische Argument für diesen Bruch lag in der Vorgabe, dass Frankreich nur auf diese Weise ein Ende des Krieges erreichen konnte.
In Fontainebleau reagierte Napoleon auf diese Entwicklungen mit neuen Kriegsplänen. Zum entscheidenden Faktor wurde jetzt die Loyalität der Armee, und sie ging dem Kaiser nun verloren: Am 4. April verweigerten die Marschälle unter Ney den Gehorsam und forderten ihn zur Abdankung auf. Napoleon wollte diese zunächst von Bedingungen (wie dem Nachfolgerecht seines Sohnes) abhängig machen, erklärte dann aber am 6. April seinen bedingungslosen Rücktritt unter Einschluss seiner Erben, der (nach dem Abschluss vertraglicher Regelungen über die Versorgung seiner Person und seiner Familie; 11. April) am 13. April in Kraft trat. Offiziell stilisierte der Empereur seinen Rücktritt, bevor er sich am 20. April zur Abreise Richtung Elba aufmachte, zu einem persönlichen Opfer, das er im Interesse Frankreichs darbringe. Er nahm dabei auf Alexanders Erklärung Bezug, seine (Napoleons) Person bilde „das einzige Hindernis auf dem Wege zur Wiederherstellung des Friedens in Europa.“22 Napoleon wurde wie ein herrschender Souverän behandelt und deswegen mit der Herrschaft über ein neues, freilich sehr kleines Territorium, das Fürstentum Elba, abgefunden. Metternich hielt die Übertragung dieser Insel, die ihm viel zu nahe an Frankreich und Italien zu liegen schien, für einen Fehler