Globalgeschichte schreiben. Roland Wenzlhuemer

Globalgeschichte schreiben - Roland Wenzlhuemer


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die vraisemblance der Geschichte. Die am 21. August 1835 abgedruckte Kurzmeldung, die man vorgeblich vom Edinburgh Courant übernommen hatte, verwies als Quelle auf einen „eminent publisher in this city“54. Auch wenn Brewster seit 1832 nicht mehr für das Edinburgh Journal of Science verantwortlich war, so weckte ein solcher Satz auf der anderen Seite des Atlantiks nach wie vor entsprechende Assoziationen. Konnte Brewster selbst hier die Quelle sein?

      Die einschlägigen britischen Wissenschaftsjournale – unter ihnen eben auch das Edinburgh Journal of Science und das Edinburgh Philosophical Journal – wurden von der nordamerikanischen Bildungselite intensiv rezipiert, wenn auch mit Verzögerung zum europäischen Publikum. Zum einen heißt das, dass Locke mit der Behauptung, man würde vom Edinburgh Journal of Science abdrucken, auch an das wissenschaftliche Prestige dieser Publikationen anschließen konnte. Dies wird unter anderem in den folgenden Zeilen deutlich, welche die britische Schriftstellerin Harriet Martineau über die Reaktionen auf Herschels angebliche Entdeckungen schrieb:

      I happened to be going the round of several Massachusetts villages when the marvellous account of Sir John Herschel’s discoveries in the moon was sent abroad. The sensation it excited was wonderful. As it professed to be a republication from the Edinburgh Journal of Science, it was some time before many persons, except professors of natural philosophy, thought of doubting its truth.55

      Neben einer Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Berichts bedeutet die Zirkulation europäischer Wissenschaftszeitschriften in Nordamerika aber auch, dass die wissenschaftlichen Debatten, die in diesen Zeitschriften geführt wurden, auch den nordamerikanischen Lesern weitgehend bekannt waren. Eine populäre Auseinandersetzung wurde dort (aber nicht nur dort) seit Jahren über die Frage geführt, ob es Leben auf dem Mond gebe und welche Zeichen man dafür gefunden habe.56 Folgt man der Debatte, so zeigt sich, dass im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert unzählige Kirchenmänner und Wissenschaftler (manchmal auch in einer Person) glaubten, es müsse intelligentes extraterrestrisches (und insbesondere lunares) Leben geben. Unter anderem wurden die diesbezüglichen Erkenntnisse der deutschen Astronomen Franz von Paula Gruithuisen, Wilhelm Olbers und Carl Friedrich Gauss in einem Artikel über The Moon and its Inhabitants zusammengefasst, der 1826 in der ersten Ausgabe des Edinburgh New Philosophical Journal – der Nachfolgepublikation des Edinburgh Philosophical Journal – erschien. Erwähnt wurden darin Gruithuisens angebliche Sichtung von Spuren großer Bauwerke (unter anderem jene eines Tempels), Olbers Vermutungen über Vegetation auf dem Mond und Gauss’ Vorschlag der Kommunikation mit den Mondmenschen mittels der Vermittlung mathematischer Grundprinzipien.57 Mit diesem Artikel war nachweislich auch Richard Adams Locke vertraut.58

      Zumindest im heute in der Universitätsbibliothek von Harvard aufbewahrten Exemplar ist „Thomas Dick, LL.D. of Dundee“ als Autor des kurzen Artikels im Edinburgh New Philosophical Journal handschriftlich hinzugefügt worden.59 Der Schotte Dick war Astronom und zugleich Priester. Er war ebenfalls überzeugt davon, dass es schon aus rein religiösen Gründen extraterrestrisches Leben geben müsse, und tat der Welt davon unter anderem in seinen Werken The Christian Philosopher (1823) oder Philosophy of Religion (1826) kund.60 Richard Adams Locke konnte Dicks Standpunkt und wohl die gesamte Debatte über Leben auf dem Mond nicht ernstnehmen. Fünfzehn Jahre nach Veröffentlichung des Mondschwindels schrieb er, die Geschichte sei eine Satire auf diese Kontroverse und vor allem auf Thomas Dick gewesen.61 Auch der Text selbst enthält durchaus Hinweise auf eine solche satirische Absicht, die allerdings von den meisten Zeitgenossen übersehen wurden. So kann man die Entdeckung einer Tempelanlage im fünften Teil auch als Spitze gegen Gruithuisens Mondbeobachtungen sehen.62 Locke ließ Dr. Grant zur Entdeckung des Tempels außerdem wörtlich sagen: „It was a temple – a fane of devotion, or of science, which, when consecrated to the Creator is devotion of the loftiest order[.]“63 Das kann man als klare Anspielung Lockes auf Thomas Dicks Vermischung von Religion und Wissenschaft sehen. Aber nicht nur für Dick hatte die Frage nach außerirdischem Leben eine klare religiöse Dimension, wie zum Beispiel in den weiteren Zeilen von Harriet Martineau sichtbar wird:

      A story is going, told by some friends of Sir John Herschel (but whether in earnest or in the spirit of the moon story I cannot tell), that the astronomer has received at the Cape a letter from a large number of Baptist clergymen of the United States, congratulating him on his discovery, informing him that it had been the occasion of much edifying preaching and of prayer-meetings for the benefit of brethren in the newly-explored regions; and beseeching him to inform his correspondents whether science affords any prospects of a method of conveying the Gospel to residents in the moon.64

      Die Geschichte, dass sich Kirchenmänner bereits über die Missionierung der Mondbewohner Gedanken machten, kursierte auch noch in anderen Versionen.65 Auch das macht nochmals die Ubiquität der Debatte über außerirdisches Leben – ebenso wie die verbreitete Praxis des Vermischens wissenschaftlicher und religiöser Elemente – deutlich.

      Es gibt demnach eine ganze Reihe von globalen – im konkreten Fall meist transatlantischen – Verbindungen und Austauschprozessen, an die Richard Adams Locke mit seiner Geschichte bewusst oder unbewusst anschloss. Zeitungs- und Zeitschriftenberichte aus Europa überquerten im frühen 19. Jahrhundert ebenso regelmäßig den Atlantik wie dies wichtige wissenschaftliche Werke taten. Mit einigen Wochen Verzögerung war die nordamerikanische Öffentlichkeit über die aktuelle Arbeit John Herschels, seine Reise zum Kap und sein neues Teleskop ebenso gut informiert wie der europäische Zeitungsleser. Die wissenschaftlich interessierten Amerikaner hatten Zugang zu den einschlägigen europäischen Publikationen, kannten deren Herausgeber und verfolgten die wichtigsten aktuellen Debatten. Kurz, nordamerikanische und europäische (und allen voran natürlich britische) Akteure waren über den Atlantik eng miteinander verbunden. Neben Menschen und Waren bewegte sich auch Wissen über den großen Teich.66 Richard Adams Locke spielte in seinem Text äußert geschickt mit diesen existierenden globalen Verbindungen und schloss mit seinen Ausführungen direkt an einen Erfahrungsrahmen seiner Leserschaft an. Er schuf auf diese Weise neue, nicht weniger wirkungsmächtige Verbindungsformen: Erwartungen, Hoffnungen, Möglichkeiten globaler Natur.

      Ebenso wie von den beschriebenen transregionalen Verbindungen lebte der Mondschwindel aber auch von Verbindungsunterbrechungen bzw. -verzögerungen. Auch dies wird beispielhaft an der Person Herschels und an der Zirkulation der erwähnten Wissenschaftsjournale deutlich. Frank O’Brien recherchierte Anfang des 20. Jahrhunderts die Geschichte der Sun und schrieb unter anderem auch über den Mondschwindel. Er berichtete, wie sich kurz nach der Veröffentlichung der angeblichen Entdeckung zwei Professoren aus Yale auf den Weg nach New York machten. Dort besuchten sie die Redaktion der Sun und verlangten, das Original des Edinburgh Journal of Science zu sehen, aus dem der Bericht angeblich übernommen worden war. Benjamin Day zeigte sich indigniert, dass die Professoren an der Authentizität des Berichts Zweifel hegten, schickte sie aber weiter zu Locke. Dieser gab sich hilfsbereit und sagte, dass sich das fragliche Heft bei einem Drucker in der William Street befände, wo es natürlich eingesehen werde könne.

      As the Yale men disappeared in the direction of the printery, Locke started for the same goal, and more rapidly. When the Yalensians arrived, the printer, primed by Locke, told them that the precious pamphlet had just been sent to another shop, where certain proof-reading was to be done. And so they went from post to pillar until the hour came for their return to New Haven.67

      Ob sich diese Episode tatsächlich so zugetragen hat, mag man zumindest in Zweifel ziehen. Sie illustriert allerdings, dass die Bezugnahme auf die schottische Zeitschrift nicht nur die Glaubwürdigkeit der Beobachtungen erhöhte, sondern auch dazu führte, dass viele Leser das Original auf Echtheit prüfen wollten. Das aber hatte Locke – absichtlich oder unabsichtlich – unmöglich gemacht. Das Edinburgh Journal of Science war 1832 in einer anderen Zeitschrift, dem London and Edinburgh Philosophical Magazine and Journal of Science, aufgegangen. Man kann vermuten, dass Locke, der England 1831 verlassen hatte, darüber nicht im Bilde war,68 oder dass er eigentlich das Edinburgh New Philosophical Journal gemeint hatte, in dem 1826 auch der Artikel von Thomas Dick erschienen war.69 In jedem Fall aber wurde so eine unmittelbare Überprüfung der Behauptungen der Sun unmöglich. Da die fragliche Zeitschrift im Jahr 1835 nicht mehr erschien, konnte auch niemand


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