Globalgeschichte schreiben. Roland Wenzlhuemer

Globalgeschichte schreiben - Roland Wenzlhuemer


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die gelehrten Leser des Athenaeum war sie also bestenfalls ein gutgeschriebener Scherz, die unglaubliche Geschichte, die sich seit Monaten von Nordamerika ausgehend über die Karibik9 nach Europa und darüber hinaus verbreitete. Für unsere Zwecke aber ist sie aus verschiedenen Gründen ein besonders geeignetes Fallbeispiel. Erstens ist diese sogenannte Great Moon Hoax selbst in vielerlei Hinsicht ein globales Phänomen. Die Geschichte breitete sich von New York über große Teile der Welt aus, wurde breit rezipiert und diskutiert. Zudem verweist das große Interesse an der Mondbeobachtung und an der Astronomie auch auf eine gewisse globalisierte Selbstwahrnehmung der Zeitgenossen im frühen 19. Jahrhundert. Die Beobachtung des Extraterrestrischen machte für sie die Weltgemeinschaft besonders deutlich. Zweitens und noch wichtiger brechen sich im Mondschwindel des Jahres 1835 verschiedenste Ebenen der Verbindungsgeschichte. Der Schwindel konnte nur dank des geschickten Spiels mit globalen Verbindungen und Nicht-Verbindungen, die in einem Verbindungsbündel zusammenwirkten, überhaupt funktionieren. Diese globale Anatomie der moon hoax soll im Folgenden exemplarisch beleuchtet werden.

      Am Freitag, 21. August 1835, druckte die New Yorker Tageszeitung Sun auf Seite 2 ein Sammelsurium von insgesamt 27 verschiedenen Kurznachrichten oder Informationen in eigener Sache.10 In diesen Meldungen versteckt und direkt nach dem Hinweis, dass die Redaktionsräume der Sun kürzlich umgezogen wären, geschaltet, fand sich dort folgende Nachricht:

      Celestial Discoveries. – The Edinburgh Courant says – „We have just learnt from an eminent publisher in this city that Sir John Herschel, at the Cape of Good Hope, has made some astronomical discoveries of the most wonderful description, by means of an immense telescope of an entirely new principle.“11

      Einer damaligen gängigen Praxis folgend zitierte das New Yorker Blatt im Wortlaut aus einer schottischen Zeitung – oder gab zumindest vor, das zu tun. Man verwies auf den Edinburgh Courant, welcher von einem Verleger gehört hätte, dass der berühmte britische Astronom John Herschel (Abb. 1) mit Hilfe eines riesigen Teleskops bahnbrechende astronomische Entdeckungen gemacht hätte. Auf die Natur dieser Entdeckungen oder deren genauere Umstände ging man nicht ein. Es folgte auch kein Hinweis darauf, dass zu diesem Sachverhalt weitere Ausführungen zu erwarten seien. Diese wenigen Zeilen waren alles, was die Sun an diesem Freitag zu der Angelegenheit zu sagen hatte.

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      Abbildung 1: Sir John Herschel, fotografiert von Julia Margaret Cameron April 1867.

      Es ist anzunehmen, dass die Leserschaft der Freitagsausgabe den Zeilen erst einmal wenig Bedeutung beigemessen hat – vorausgesetzt, dass sie überhaupt von einem größeren Leserkreis wahrgenommen wurden. Die Sun war das erste penny paper in den Vereinigten Staaten und wurde vor allem von Zeitungsjungen auf der Straße verkauft. Ihre Leser waren üblicherweise mehr am illustren Tagesgeschehen in und um New York interessiert als an den neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen. Daher war der kurze Hinweis auf celestial discoveries wohl nur zum Teil als freitäglicher Teaser gedacht, der Spannung erzeugen und die Neugierde der Leserschaft wecken sollte. Vielmehr war er Teil eines durchdachten Täuschungsmanövers, das den später folgenden Artikeln in der Retrospektive zusätzliche Glaubwürdigkeit verleihen sollte. Mit der unscheinbaren Nachricht startete die Sun am 21. August 1835 die Great Moon Hoax, den sogenannten „großen Mondschwindel“, der nicht nur in der New Yorker Öffentlichkeit auf riesiges Interesse stieß, sondern auch weit in den amerikanischen Westen und sogar nach Europa weitergetragen wurde.

      Vier Tage später am Dienstag, 25. August, druckte die Sun den ersten von sechs langen Artikeln zum Thema.12 Der Text selbst wurde direkt auf der ersten Seite platziert und füllte diese aufgrund seiner beträchtlichen Länge auch zum Großteil. Erst auf der zweiten Seite folgte eine kurze Erklärung der Redaktion:

      We this morning commence the publication of a series of extracts from the new Supplement to the Edinburgh Journal of Science, which have been very politely furnished us by a medical gentleman immediately from Scotland, in consequence of a paragraph which appeared on Friday last from the Edinburgh Courant. The portion which we publish to day is introductory to celestial discoveries of higher and more universal interest than any, in any science yet known to the human race.13

      Die Erklärung verwies auf die kurze Notiz vom 21. August und brachte nun neben dem Edinburgh Courant vor allem das Edinburgh Journal of Science ins Spiel, aus dessen Beiheft die Serie von Artikeln stamme. Der Titel des Haupttexts auf der Frontseite wies ebenfalls deutlich auf die Provenienz des folgenden Textes hin: GREAT ASTRONOMICAL DISCOVERIES, LATELY MADE BY SIR JOHN HERSCHEL, L. L. D. F. R. S. &c. At the Cape of Good Hope [From Supplement to the Edinburgh Journal of Science.]14 Darauf folgte der eigentliche Text, welcher der üblichen Praxis folgend nicht paraphrasierte, sondern den angeblichen Inhalt des Edinburgh Journal of Science im Originalwortlaut wiedergab:

      In this unusual addition to our Journal, we have the happiness of making known to the British publick, and thence to the whole civilized world, recent discoveries in Astronomy which will build an imperishable monument to the age in which we live[.]15

      Allerdings verrieten die zahlreichen verbleibenden Zeilen dieses ersten Berichtsteils noch sehr wenig von den bahnbrechenden Entdeckungen selbst. Vielmehr diente der Text als vielschichtige Vorbereitung der späteren Folgen, die einerseits einen Spannungsbogen aufbaute, vor allem aber ein breites Fundament für die Glaubwürdigkeit der kommenden Ausführungen legte. Eine zentrale Rolle in diesem Zusammenhang spielte ein technisch völlig neuartiges, riesiges Teleskop, das John Herschel entwickelt haben sollte, und das die angedeuteten Entdeckungen überhaupt erst möglich gemacht habe. In einem chronologischen Vorgriff hieß es schon früh im Text, Herschel hätte, nachdem er das Teleskop schließlich aufgebaut und eingestellt hatte, für einige Stunden feierlich innegehalten, bevor er seine Himmelsbeobachtungen begann, um sich geistig auf seine großartigen Entdeckungen vorzubereiten.16 Der Autor des Artikels nahm dieses Innehalten stilistisch immer wieder auf – „And well might he pause!“ –, um die überwältigende Natur von Herschels angeblichen Erkenntnissen zu unterstreichen, ohne schon zu viel darüber zu verraten. Erst im folgenden Absatz gab es schließlich einen ersten konkreten Hinweis auf die Sensation:

      [T]he younger Herschel, at his observatory in the Southern Hemisphere, has already made the most extraordinary discoveries in every planet of our solar system; has discovered planets in other solar systems; has obtained a distinct view of objects in the moon, fully equal to that which the naked eye commands of terrestrial objects at the distance of hundred yards; has affirmatively settled the question whether this satellite be inhabited, and by what order of things; has firmly established a new theory of cometary phenomena; and has solved or corrected nearly every leading problem of mathematical astronomy.17

      Versteckt zwischen vielen Punkten von astronomischem Fachinteresse, fand sich hier die eigentliche Sensation angedeutet. Herschel hätte die Frage nach Leben auf dem Mond – eine Frage, die im Rahmen der damals wogenden Debatte um extraterrestrisches Leben18 gerade sehr aktuell war – definitiv beantwortet. Darüber, wie seine Antwort aussah, konnten die Leser zu diesem Zeitpunkt aber nur spekulieren, denn der lange Rest des Textes beschäftigte sich praktisch ausschließlich mit den technischen Voraussetzungen für Herschels Forschungsergebnisse und deren Vermittlung. Zuerst wurde ein gewisser Dr. Andrew Grant vorgestellt, eine, wie sich später herausstellen sollte, frei erfundene Figur – ein Astronom, der beim Vater William Herschel gelernt habe und nun die rechte Hand des Sohnes John Herschel sei. Auf Grants Informationen aus erster Hand, die er mit der ausdrücklichen Erlaubnis Herschels weitergegeben habe, würde dieser Bericht beruhen. Der gesamte Rest des ersten Artikels widmete sich dann ausschließlich der Erfindung und Entwicklung von Herschels neuartigem Teleskop, das in exzessiver technischer Detailliertheit beschrieben wurde. Der tatsächliche Autor des Artikels verstand offensichtlich genügend von Optik und Astronomie, um hier an den Stand von Technik und Wissenschaften anschließen zu können und die Entwicklung eines Teleskops mit einer sieben Tonnen schweren Linse und 42.000facher Vergrößerungskraft halbwegs plausibel zu schildern. Der Text endete damit anzumerken, dass Herschel schon während der Konstruktion des Teleskops


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