Grundfragen der Sprachwissenschaft. Peter Schlobinski

Grundfragen der Sprachwissenschaft - Peter Schlobinski


Скачать книгу
kann und zahlreiche Ergebnisse aus empirischen Studien vorliegen.

      Johann Gottfried von Herder (*25.8.1744 in Mohrungen, †18.12.1803 in Weimar)

      Herder hat als Philosoph, Dichter und Übersetzer zusammen mit Goethe, Schiller und Wieland das ›Viergestirn‹ der Weimarer Klassik bildend, die deutsche Klassik und Romantik wesentlich beeinflusst, und er hat die deutsche Sprach- und Geschichtswissenschaft mit begründet.

      Neben seinem Frühwerk Fragmente über die neuere deutsche Literatur (1766/67) und der 1773 herausgegebenen Sammlung programmatischer Schriften unter dem Titel Von deutscher Art und Kunst, die für die deutsche Literatur von großer Bedeutung waren, ist es seine Abhandlung Über den Ursprung der Sprache (1772), die für die Sprachwissenschaft paradigmenbildend war. Gegen Süßmilchs Position, die Sprache sei von Gott gegeben (s. Text), vertritt Herder die Meinung, dass »Gott durchaus für die Menschen keine Sprache erfunden [hat], sondern diese haben immer noch mit Würkung eigner Kräfte, nur unter höherer Veranstaltung, sich ihre Sprache finden müssen« (Herder 1772: 63). Vielmehr finde sich der Ursprung der Sprachen in den »wilden Tönen freier Organe« (ebd. S. 18), wie sie auch bei Tieren zu finden sind.

      Was aber unterscheidet die menschliche Sprache von der tierischen Lautgebung? »Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden« (ebd. S. 52). Und: « − die Sprache ist erfunden! Eben so natürlich und dem Menschen nothwendig erfunden, als der Mensch ein Mensch war« (ebd. S. 56).

      Der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, vertritt die These, dass erste Formen menschlicher Kommunikation in Zeigegesten und in der Nachahmung liegen und dass Gesten von Affen »are the original font from which the richness and complexities of human communication and language have flowed« (Tomasello 2008: 55). Der symbolischen Kommunikation geht die gestische, deiktische Kommunikation voraus, und sie kann rückgebunden werden auf nichtmenschliche, gestische Kommunikation der höheren Primaten. Es gibt zwei grundsätzliche Typen von Affengesten: Intentionalitätsgesten, z.B. Arm-Heben, um das Spiel zu initiieren, und Aufmerksamkeitsgesten. Der kommunikative Akt von Affengesten ist der folgende: »check the attention of other > walk around as necessary > gesture > monitor the reaction of other > repeat or use another gesture« (ebd. S. 33). Während Intentionalitätsgesten eine soziale Intention ausdrücken im Sinne von ›Gestengeber (G) will, dass der Rezipient (R) die durch die Geste ritualisierte Bedeutung tut‹, drücken Aufmerksamkeitsgesten aus, dass G will, dass R etwas sieht, und dies hat möglicherweise die Bedeutung, dass G R etwas tun lassen will. Über die gestische Kommunikation hinaus, die auch für die menschliche Kommunikation basal ist – der Leser achte einmal darauf, wie oft er mit dem Finger auf etwas zeigt, um bestimmte Intentionen auszudrücken, z.B. beim Einkauf –, sind Affen in der Lage, mit Menschen symbolisch zu kommunizieren. Die Forschungen von Susan Savage-Rumbaugh zu Zwergschimpansen (Bonobos) zeigen (s. Kap. 12), dass diese einen Wortschatz von 150 Wörtern erwerben können und Wörter in Form von Bildsymbolen zu Zwei- und Dreiwortsätzen kombinieren können, und sie sind dabei kreativ. Bonobos also haben die Fähigkeit, einfache sprachliche Systeme zu lernen, sie entwickeln aber diese nicht spontan. Was unterscheidet qualitativ die Sprachfähigkeit des Menschen von anderen Primaten und anderen Tieren (Delfinen, Papageien)? Was sprachliche Kommunikation einzigartig macht, ist nach Tomasello die Fähigkeit der kooperativen Kommunikation, der Wir-Intentionalität. Sowohl Sprecher als auch Hörer wissen, dass sie die gleiche Konvention in der gleichen Art und Weise gebrauchen, sie (glauben zu) verfügen über ein gemeinsam geteiltes Wissen: A weiß, dass B weiß, dass A weiß, dass X. Wenn A B auffordert, Y zu tun, dann glaubt er zu wissen, dass B weiß, dass A weiß, was die Aufforderung umfasst. Und in Bezug auf das sprachliche Zeichensystem (s. hierzu Kap. 19) ist entscheidend der Übergang zur symbolischen Kommunikation, zur Kommunikation mit arbiträren Zeichen.

      Für Tomasello ist Sprache entstanden im Prozess der Soziogenese, im Prozess der ›kumulativen kulturellen Evolution‹. Hier gibt es zwei Grundformen, wodurch in sozialen Interaktionen etwas Neues entstehen kann. Die erste umschreibt Tomasello mit dem Begriff ›Wagenhebereffekt‹. Eine Innovation, sei es bei der Werkzeugherstellung bzw. dem Gebrauch von Werkzeugen oder der symbolischen Kommunikation, wird an spätere Benutzer weitergegeben, und die soziale Tradierung verhindert (stützend wie ein Wagenheber), dass die Benutzer hinter die neue Praxis zurückfallen. Die Innovation kann durch einen Einzelnen oder, und dies wäre die zweite Art der Soziogenese, durch die Zusammenarbeit von zwei oder mehreren Individuen entstehen. Konstruieren wir ein Szenario, in dem beide Formen der Zusammenarbeit gemeinsam auftreten. Nehmen wir an, eine Gruppe von Hominiden gebrauchte eine Zeigegeste kombiniert mit der Lautgeste ko, um vor einer größeren Raubkatze zu warnen. Aufgrund des Stadiums der Werkzeugherstellung waren sie zunächst nicht in der Lage, sich gegen Löwen zu verteidigen oder gar sie zu jagen. Eines Tages kommt ein Individuum auf die Idee, einen Steinabschlag und einen Stock zu einem Speer zu kombinieren, um Tiere zu jagen, nachdem es vergeblich versucht hatte, eine Schlange zu erlegen. Es stellt also den Speer her und zeigt den anderen Gruppenmitgliedern, wie seine neue Erfindung funktioniert. Die anderen imitieren sein Handeln, so dass sich eine kulturelle Praxis des (zunächst) Kleintierjagens per Speer entwickelt, die auch von den Jüngeren gelernt und später an ihre Kinder weitergegeben wird. Über einen gewissen Zeitraum wird der Speer verbessert, so dass auch größere Tiere gejagt werden können, um den Stamm ausreichend mit Nahrung zu versorgen. Auf der Suche nach Wild hört eine Gruppe von Jägern einen Löwen, von dem sie glauben, dass er derjenige sein muss, der bereits zwei ihrer Stammesmitglieder getötet hat. Die Jäger, die gelernt haben, ihre Jagdhandlungen zu koordinieren, flüstern ko und schauen in die Richtung, wo sie den Löwen vermuten. Durch Handzeichen koordinieren sie ihr gemeinsames Handeln, pirschen sich an und erlegen den Löwen. Sie ziehen dem Löwen das Fell ab und nehmen es mit zurück zu dem Platz, wo der Stamm lagert. Die Jäger legen das Löwenfell auf den Boden, tanzen im Kreis um das Fell herum, stoßen immer wieder mit den Speeren in Richtung des Löwenfells und rufen ko, ko.

      Mit dieser – zugegebenermaßen klischeeartigen und konstruierten – Darstellung soll verdeutlicht werden, wie sich im Sinne von Tomasello der Vorgang kumulativer kultureller Evolution denken lässt:

      1. Das oben bezeichnete Individuum (I) löst ein Problem, indem es den Nutzen zweier Artefakte (Steinabschlag, Stock) zu einem neuen Gebrauch und Nutzen kombiniert. Dabei muss sich I deren Gebrauch und Nutzen vorstellen und im Hinblick auf die gegenwärtige Problemlösung modifizieren. Die Erfindung wird durch Imitationslernen weitergegeben und durch soziale Praxis (Jagen) tradiert. Nachdem diese etabliert ist, wird das Artefakt verbessert für eine modifizierte soziale Praxis (Jagen von Großtieren).

      2. Das Artefakt wird für eine weitere Problemsituation genutzt, nämlich nicht mehr allein für das Erjagen von Tieren zur Nahrungsbeschaffung, sondern um sich eines gefährlichen Tieres zu erwehren. Hierbei wird die soziale Praxis durch ein gemeinsames Handeln in der Gruppe modifiziert. Das gemeinsame Handeln erfolgt auch

      3. auf der Ebene der sprachlichen Kommunikation. Im Ursprung war das Lautzeichen ›ko‹ eine vokalische Geste, ein indexikalisches Zeichen (s. Kap. 19) für von Raubkatzen ausgehende Gefahr. In der Jagdsituation findet eine leichte Modifikation statt: Durch ko wird der Löwe thematisiert und durch die Blickgeste lokalisiert. In der rituellen Verarbeitung schließlich wird zwischen dem Löwenfell (partonym für Löwe) und ko eine Verbindung hergestellt. In dem fiktiven Szenario entsteht eine Verbindung zwischen einem Inhalt (Löwe) und einer Lautform (ko). Anders formuliert: Es entsteht symbolische Kommunikation.

      Dass neue Formen des kulturellen Lernens und der Soziogenese möglich wurden, die kulturelle Artefakte und Verhaltensweisen hervorbrachten, in denen sich Veränderungen über eine historische Zeitspanne akkumulieren konnten, dies sieht Tomasello in folgendem zentralen Faktor: »Der moderne Mensch entwickelte die Fähigkeit, sich mit seinen Artgenossen zu identifizieren, was dazu führte, daß er sie als intentionale geistbegabte Wesen wie sich selbst auffaßte« (Tomasello 2006: 22). Die in der fiktiven Geschichte dargestellten Lernprozesse


Скачать книгу