Grundfragen der Sprachwissenschaft. Peter Schlobinski
sondern auch durch den anderen lernen können« (ebd., S. 17). Sprachliche Symbole seien nun besonders geeignete symbolische Artefakte, um Kategorisierungen und Perspektiven auf die Welt vor- bzw. einzunehmen.
Für Tomasello ist entscheidend die kulturelle Weitergabe, die kulturelle und nicht die biologische Vererbung: Sprache ist eine aus sozio-kommunikativen Handlungen entwickelte symbolisch verkörperte soziale Institution. Anders als Chomsky (s. auch Kap. 4) geht er nicht von angeborenen Prinzipien der Sprache, ›verborgenen Prinzipien und Parametern‹ und kognitiven Modulen aus, sondern von allgemeinen kognitiven Fähigkeiten. Das Inventar von Symbolen und Konstruktionen einer Sprache »gründet in universalen Strukturen menschlicher Kognition, menschlicher Kommunikation und den Mechanismen des Stimm- und Hörapparates. Die Eigenarten einzelner Sprachen rühren von Unterschieden zwischen den Völkern der Erde her und beziehen sich auf Dinge, über die zu sprechen sie für wichtig halten, und auf das, was sie hinsichtlich dieser Dinge als nützliche Informationen ansehen« (ebd., S. 60). Indem Tomasello die verschiedenen Sprachen auf Völkerunterschiede und die sprachliche Variation auf grundlegende kognitive Fähigkeiten zurückführt, ist die Annahme einer Protosprache logisch konsequent (s. hierzu Kap. 14). Deren Ursprung sieht er bei den frühesten modernen Menschen, »die ihren Ursprung vor etwa 200 000 Jahren in Afrika hatten [und] die als Erste symbolisch zu kommunizieren begannen, indem sie möglicherweise einfache symbolische Formen verwendeten, die analog zu denen sind, die von Kindern verwendet werden« (ebd., S. 63).
Kooperative Kommunikation und in Folge symbolische Kommunikation ist also das Resultat von Anpassungsprozessen an veränderte soziale Handlungsmuster. Sprache hat sich ausgebildet als Mittel der sozialen Kommunikation auf der Folie spezifischer kognitiver Fähigkeiten.
14 Wie haben sich Sprachen entwickelt?
Heute gibt es ungefähr 6500 Sprachen auf der Welt (vgl. Kap. 9). Zudem gibt es zahlreiche Regio- und Dialekte. Nun mag man (gelegentlich) darüber streiten, ob eine Sprache B eine eigene Sprache oder eine Variante der Sprache A sei, z.B. beim Saterfriesischen, das gelegentlich als niederländischer Dialekt klassifiziert wird. Tatsache ist, dass die sprachliche Vielfalt heute sehr hoch ist, und es stellt sich die Frage, wie sich diese Vielfalt entwickelt hat und sich erklärt. Im Hinblick auf die Sprachenevolution gibt es zwei grundsätzliche Ansätze, den Ansatz der Monogenese und den der Polygenese. Favorisiert wird das monogenetische Modell, nach dem unsere Sprachen Folgen der Migration des Homo sapiens sapiens aus Afrika sind. Dies ist die sog. Out-of-Africa-II-Hypothese. Für dieses Modell sprechen auch Forschungsergebnisse aus der Genetik, speziell vergleichende mtDNA-Analysen (Krings et al. 1997, Fagan 2012: 92 ff.).
Der Homo sapiens hatte vor ungefähr 170 000 Jahren seinen Ursprung im südlichen Afrika, die Wanderung des modernen Homo sapiens von Nordostafrika nach Norden begann vor etwa 110 000 Jahren. Von Nordafrika aus und über die Arabische Halbinsel breitete sich der Homo sapiens in die ganze Welt aus. In der Levante (östlicher Mittelmeerraum) wurden älteste Relikte vom modernen Menschen auf etwa 80 000 Jahre datiert, in Asien sind die frühesten Funde ca. 40 000 Jahre alt. In Europa tritt der sog. Cro-Magnon-Mensch vor ungefähr 40 000 Jahren auf, vor ca. 30 000 Jahren lebte Homo sapiens in Australien. Über die Behringstraße drang der moderne Mensch schließlich auch nach Amerika vor. Auf der einen Seite haben wir also ein kleines Populationssubstrat der afrikanischen Völker und Sprachen, andererseits Migrationspopulationen und -sprachen.
Nun ist die Lage hinsichtlich früher Sprachstadien insofern schwierig, als wir nur über schriftsprachliche Quellen verfügen und somit über Daten für einen Zeitraum von ca. 5000 Jahren. Um ältere Stadien oder gar Protosprachen zu rekonstruieren, muss man über Sprachvergleichung und Rekonstruktion versuchen, ältere Sprachstufen zu extrapolieren. In diesem Zusammenhang sind die Ergebnisse von Cavalli-Sforza et al. (1998) interessant und von grundsätzlicher Bedeutung: Danach sind genetische und sprachliche Verwandtschaft der Weltbevölkerung korreliert, ein Zusammenhang, der im Detail allerdings nicht klar nachzuweisen ist. Wir wollen an dieser Stelle nur einen Aspekt und Gedanken weiterverfolgen: Wenn die Völker Südafrikas den Ausgangspunkt der weltweiten Wanderungsbewegungen bilden, dann ist es plausibel und interessant, sich die Sprachen ihrer Nachkommen anzusehen. Unter den Völkern Südafrikas sind die Khoisan besonders interessant, da sie über ein breites Siedlungsgebiet verteilt lebten und stammesgeschichtlich zu den ältesten Völkern zählen. In den Khoisan-Sprachen finden sich zahlreiche Schnalzlaute, die in anderen Sprachen nicht oder nur rudimentär auftreten (s. Kap. 39). Eine Hypothese lautet nun, dass die Schnalzlaute in den Khoisan-Sprachen Relikte einer alten Sprachform sind, ja, Relikte einer Protosprache, die in den Migrationssprachen dann aufgegeben wurden.
Wenn wir von der Monogenese der sprachlichen Entwicklung ausgehen, dann stellt sich die Frage, warum es so viele unterschiedliche Sprachen gibt. Warum so unterschiedliche grammatische Strukturen und nicht nur einen Bauplan für alle Sprachen? Warum unterschiedliche Lautstrukturen, warum unterschiedliche Benennungsstrategien? Das Stichwort lautet Sprachvariation und Sprachwandel, und der Schlüssel zur Beantwortung der Fragen liegt wiederum in der Evolution und in Adaptions- und Selektionsprozessen. Mit veränderten Umweltbedingungen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Existenzbedingungen ändern sich kommunikative Notwendigkeiten. Sprache als ein Werkzeug, wie es Karl Bühler gesehen hat (s. Kap. 21), stellt für unterschiedliche Aufgaben unterschiedliche konkrete Werkzeuge zur Verfügung. Sprachliche Differenzierung und Variation ist Resultat sich ändernder und veränderter Umweltbedingungen. Die Anpassungsprozesse haben für die Sprecher einen wie auch immer motivierten kommunikativen Mehrwert. Stellen wir uns vor, dass in einer kleinen Sprachgemeinschaft von Jägern und Sammlern bestimmte Laute bei der gemeinsamen Jagd eine bestimmte Funktion haben, z.B. um leise und sprachlich maskiert zu interagieren. Wenn Sprecher dieser Sprachgemeinschaft nun sesshaft werden und Viehzucht betreiben, sind diese spezifischen Laute funktional nicht mehr notwendig und können (müssen aber nicht) aufgegeben werden. Stellen wir uns weiter vor, dass die Sprechergruppe S auf eine andere Sprechergruppe S’ trifft, die ähnlich spricht, aber die spezifischen ›Jagdlaute‹ nicht im Lautrepertoire hat. Im Zusammenleben beider Sprechergruppen und wegen der funktionalen Überflüssigkeit der Laute gibt die Sprechergruppe S in der neuen, vereinheitlichten Sprachgemeinschaft nun (möglicherweise) die Laute auf. Nehmen wir weiter an, dies wäre so. Der Wegfall der Laute führt sprachsystematisch zu Lücken, die nun in einer bestimmten Art und Weise mit lautlichem Material gefüllt werden, z.B. wenn die Laute vor einem Vokal stehen und eine Silbe bilden und bei Wegfall der Silbenanfangsrand durch einen spezifischen Laut aus dem eigenen Lautsystem besetzt wird. Fassen wir unser fiktives Beispiel zusammen und konkretisieren es:
1. Im System der Sprechergruppe S gibt es die ›Jagdlaute‹ /k/, /kh/, /g/, die am Silbenanfang stehen, z.B. /ka/, /ko/, /kha/, /khe/, /ga/.
2. Aufgrund äußerer Bedingungen werden diese Laute aufgegeben.
3. Die phonologische Lücke wird ersetzt durch /q/, also /qa/, /qe/, /qo/.
Nehmen wir nun weiter an, Sprechergruppe S’ hat ebenfalls den Laut /q/ im Sprachsystem und der Silbenanfang wird ebenfalls konsonantisch (durch die Plosive k, t, p) besetzt, allein vor den Lauten /e/ und /i/ nicht, dort besteht eine Lücke. Sprecher von S’ übernehmen nun den Ersetzungsprozess von S, allerdings nur vor den Lauten /e/ und /i/. Oder anders formuliert: Am Silbenanfang und vor den Vokalen /e/ und /i/ wird der Konsonant /q/ inseriert. Da wir angenommen haben, dass die Lücke silbeninitial nur vor /e/ und /i/ besteht, lässt sich die Ersetzungsregel vereinfachen: Am Silbenanfang wird die Lücke durch /q/ ersetzt.
Aus dem zugegebenermaßen stark konstruierten Beispiel lässt sich ableiten, dass zwei Aspekte für Veränderungsprozesse eine Rolle spielen: 1. sprachexterne Faktoren und 2. sprachinterne Faktoren. Wir müssen also sprachliche Veränderungen in Beziehung zur Umwelt sehen (Sprachsystem – Umweltsysteme) und auch reflexive Veränderungen im Sprachsystem selbst. Wir werden auf diese Punkte in Kap. 66 genauer eingehen und an Beispielen verdeutlichen.