Grundfragen der Sprachwissenschaft. Peter Schlobinski

Grundfragen der Sprachwissenschaft - Peter Schlobinski


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Klassifikatoren (KL) sind sprachliche Mittel, mit denen der Wortschatz strukturiert und organisiert wird. Im Deutschen sind es (a) das Genussystem, wo Substantive nach drei Kategorien (Neutrum, Maskulinum, Femininum) strukturiert und (b) quantifizierende Ausdrücke (vgl. 3), mithilfe derer Mengen spezifiziert werden. Welche Maßangaben prototypisch gebraucht werden können, ist abhängig von den Objekten, auf die sich beziehen.

      (3a) zwei Tassen Kaffee, drei Tassen Tee, ?drei Tassen Wein, ?drei Tassen Bier

      (3b) ?zwei Gläser Kaffee, drei Gläser Tee, drei Gläser Wein, drei Gläser Bier

      (3c) ?eine Flasche Kaffee, ?eine Flasche Tee, eine Flasche Wein, eine Flasche Bier

      In vielen Sprachen gibt es Klassifikatoren (KL), die eine klassifizierende bzw. kategorisierende Funktion haben. Dabei spielen Faktoren wie Ausdehnung, Dimensionalität, Größe, Funktion, Richtung, Konsistenz der Referenten eine entscheidende Rolle. Im Chinesischen gibt es eine Reihe von Klassifikatoren (4), die immer mit einem Substantiv in Verbindung auftreten müssen, wie zhāng in Verbindung mit Substantiven flache, dünne Objekte bezeichnet. Für stockartige Dinge, die man mit der Hand greifen kann, steht der Klassifikator b

bimage simagen ›ein Regenschirm‹.

      (4) image

      yī zhāng zh

      ein KL Papier

      ein Stück Papier

      In der Gebärdensprache gibt es ebenfalls zahlreiche kategorisierende Klassifikatoren (5,6). Die Gebärde für den Klassifikator für zweidimensionale, eckige Objekte in Verbindung mit Papier hat die Bedeutung ›ein Blatt Papier‹. Wird stattdessen der Klassifikator für dreidimensionale, eckige Objekte gebärdet, dann entsteht die Bedeutung ›ein Block Papier‹.

      (5) PAPIER KL: 2D-ECKIG

      ein Blatt Papier

      (6) PAPIER KL: 3D-ECKIG

      ein Block Papier

      Gebärdensprachen haben also eine Grammatik wie jede andere Lautsprache auch. Und: Untersuchungen zeigen, dass der Erstspracherwerb in der Gebärdensprache genauso verläuft wie in einer Lautsprache und dass die Sprachverarbeitung im Gehirn in den gleichen Regionen stattfindet.

      Plansprachen sind für die menschliche Kommunikation konstruierte Sprachen; es gibt in der Regel eine Person, die die Sprache erfunden hat. In den meisten Fällen ist die dahinter liegende Idee, eine einfache Sprache zu entwickeln, die jeder Mensch auf der Welt nutzen kann. Erleichterung der Kommunikation bei Sprechern unterschiedlichster Sprachen, internationale Verständigung über Sprachgrenzen hinweg, dies sind die primären Motive für eine Plansprache. Es hat in der Geschichte unterschiedlichste Versuche gegeben, eine Plansprache zu etablieren – natürlich von Linguisten, berühmt sind Rasmus Christian Rask (1787–1832) und seine Linguaz Universale sowie Otto Jespersen (1860–1943) mit seinem Novia-Projekt –, aber Erfolg hatte nur der Augenarzt Ludwik Lejzer Zamenhof (1859–1917). Sein 1887 zunächst auf Russisch erschienenes Werk Lingvo Internacia sollte unter jenem Begriff Karriere machen, den er als Pseudonym für die Veröffentlichung gewählt hatte: Dr. Esperanto (Dr. Hoffender). Nicht zuerst linguistisches Interesse, sondern seine Erfahrungen als Jude waren Zamenhofs Hauptbeweggründe für die Schaffung des Esperanto, wie aus einem Brief an den Juristen Alfred Michaux aus dem Jahre 1905 hervorgeht: »Niemand kann das Unheil der menschlichen Spaltung so stark empfinden wie ein Jude des Ghettos. Niemand kann die Notwendigkeit einer menschlich neutralen, anationalen Sprache so stark empfinden wie ein Jude, der gezwungen ist, zu Gott zu beten in einer seit langem toten Sprache eines Volkes, das ihn ablehnt, und der Leidensgenossen hat auf der ganzen Welt, mit denen er sich nicht verständigen kann. […] Ich sage Ihnen nur einfach, dass mein Judentum der Hauptgrund war, weshalb ich mich seit meiner frühesten Kindheit einer Idee und einem großen Traum verschrieben habe – dem Traum, die Menschheit zu einigen« (zitiert nach Janton 1978: 22).

      Esperanto wird heute weltweit gesprochen und auch geschrieben, von wie vielen Menschen, ist schwer zu bestimmen, es sind sicherlich mehr als eine Million. Ein Blick auf das Esperanto zeigt (s.u.), dass einem Sprecher des Deutschen und Englischen oder gar einer romanischen Sprache der Text nicht fremd vorkommt. Eine Wortgruppe wie ›apud sia fratino’ ist uns orthografisch vertraut und wirkt irgendwie lateinisch (lat. apud = bei; suum, -a, -um = sein; frater = Bruder). Merkwürdig ist, dass im englischen Original sister (Schwester) steht und nicht brother (Bruder).

      Alicio, jam longan tempon sidinte apud sia fratino sur la deklivo, tre enuiĝis pro senokupo. Unu, du foje ŝi prove rigardis en la libron kiun la fratino legas, sed povis vidi en ĝi nek desegnojn nek konversaciojn, kaj »por kio utilas libro,« pensis ŝi, »enhavanta nek desegnojn nek konversaciojn?«

      Ŝi do ekpripensis ‒ ne tre vigle ĉar la tago estis varma, kaj ŝi sentis sin tre dormema ‒ ĉu la plezuro fari ĉenon el lekantetoj valorus la laboron sin levi kaj kolekti lekantetojn, kiam tutapude preterkuris Blanka kuniklo kun paleruĝaj okuloj.7

      Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, ›and what is the use of a book‹, thought Alice, ›without pictures or conversation?‹

      So she was considering in her own mind (as well as she could, for the hot day made her feel very sleepy and stupid), whether the pleasure of making a daisy-chain would be worth the trouble of getting up and picking the daisies, when suddenly a White Rabbit with pink eyes ran close by her.8

      Das Esperanto hat eine einfache Grammatik und ist wie eine agglutinierende Sprache aufgebaut (s. auch Kap. 9), d.h. grammatische Kategorien wie Kasus oder Numerus werden durch eine Endung, genauer: durch ein Suffix, oder durch andere, eindeutige Mittel ausgedrückt. Sehr verkürzt gesagt: Esperanto ist ein agglutinierendes Latein.

      Schauen wir uns das Nomen fratino genauer an. Das Nomen bekommt immer die Endung -o, an die Wurzel frat wird also die Endung -o angehängt: frato (Bruder), bei einem Adjektiv die Endung -a: frata (brüderlich). Bei der Femininform wird an die Wurzel die Endung -in angefügt, also frat-in-o (weiblicher Bruder = Schwester). Wollten wir den Plural bilden, so hängen wir an das ganze Wort ein -j: fratinoj (die Schwestern). Und wie wird der Kasus gebildet?

      Die -o-Form entspricht dem Nominativ, es gibt aber keine eigentliche Nominativendung. Denn der Akkusativ wird dadurch gebildet, dass dem Nomen zum Schluss ein -n hinangefügt wird (s. auch Tab. 4), also fraton (den Bruder), fratinon (die Schwester), fratinojn (den Schwestern). [Nebenbei: Der Akzent liegt immer auf der vorletzten Silbe, das ist die sog. lateinische Pänultimaregel.] Die anderen Kasus werden wie im Englischen durch Präpositionen angegeben: der Genitiv durch de (von), der Dativ durch al (zu) und der aus dem Lateinischen bekannte Ablativ9 durch kun (mit). Das Possessivpronomen sia ist aus dem Personalpronomen si (sie) gebildet, indem -a angehängt wird. Die Präposition apud wird wie im Lateinischen nicht flektiert.

Wurzel Wortbildungsendung Nominalisierungsendung Pluralendung Akkusativendung
frat -in -o -j -n

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