Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
zu deren prominentesten [34]Lehrern Jacob Marperger, Christian Thomasius, Johann Georg Hamann, Johann Peter von Ludewig sowie der Begründer der modernen Staatswissenschaft, August Ludwig Schlözer, zählten (vgl. Groth 1948, S. 35ff). Zu den Aufklärern des ausgehenden 18. Jahrhunderts und gleichzeitig zu den ersten »Opinionisten« gehörte auch der Diplomat Joachim von Schwarzkopf (vgl. Schwarzkopf 1795). Er versuchte, »die Entwicklungsbedingungen des Zeitungswesens historisch zu klären, die Zeitungen typologisch zu ordnen, Wirkungsmechanismen zu demonstrieren und Kriterien für eine vernünftige Zeitungs- und Journalismuspolitik zu entwickeln« (Wagner 1997, S. 84). Schwarzkopf schuf laut Koszyk/Pruys »die Grundlage der Zeitungskunde, wie sie dann in Deutschland bis ins 20. Jahrhundert betrieben wurde« (Koszyk/Pruys 1976, S. 9).
2.4 Das 19. Jahrhundert: Opinionisten, Historiker, Ökonomen, Soziologen
Für das 19. Jahrhundert ist auf mehrere Entwicklungsstadien der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Presse zu verweisen: auf die Zeit des Vormärz und die in ihr wirkenden Opinionisten; auf den Historismus und die aus ihm hervorgegangenen Pressehistoriografen; sowie schließlich auf nationalökonomische und soziologische Betrachtungen des Pressewesens als Folge des Aufkommens der Massenpresse.
Mit der Wiedereinführung der 1806 aufgehobenen Zensur als Folge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 geriet die Presse in der Zeit des Vormärz unter den Druck politischer Strömungen. Den liberalen und demokratisch gesinnten Opinionisten, die die Presse »als Organ und Spiegel der öffentlichen Meinung» sahen, standen absolutistisch gesinnte Antipoden gegenüber; für sie war die Presse ein »Werk ›subjektiver‹ und ›individueller‹ Geister zur Lenkung oder gar Manipulation der öffentlichen Meinung« (Wagner 1997, S. 84). So forderte der liberale Staatsrechtslehrer und Politiker Carl Theodor Welcker 1830 in einer Petition an die Bundesversammlung die »vollkommene und ganze Preßfreiheit« (Welcker 1830). Auf der anderen Seite stand, gleichsam als »Repräsentant des untergehenden Absolutismus« (Wagner 1997, S. 84), der protestantische Theologe Franz Adam Löffler. Er verfasste 1837 sein umfassendes Werk »Über die Gesetzgebung der Presse. Ein Versuch zur Lösung ihrer Aufgabe auf wissenschaftlichem Wege« (Löffler 1837). Es ist dies ein weitangelegtes System der Presswissenschaft, das u. a. die Wissenschaft des Pressbegriffs, eine Philosophie des Pressrechts und eine Geschichte der Druckerpresse umfasste. Löffler befasste sich auch mit der Bedeutung der Presse für die Entstehung der öffentlichen Meinung, deren soziologische Funktion er erkannte und die durch ihn zum Gegenstand der pressewissenschaftlichen Theorie wurde. Damit war der »entscheidende Schritt vom Medium zu seiner Wirksamkeit in der Gesellschaft getan« (Koszyk/Pruys 1976, S. 9). Groth sieht in Löfflers Werk das bis dahin »umfangreichste, gründlichste und geschlossenste Werk der Publizistik« und bezeichnet Löffler als den »Begründer« bzw. »Bahnbrecher« der Publizistikwissenschaft (Groth 1948, S. 125).
Ein scharfer Kritiker der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommenden Massenpresse ist schließlich in dem Historiker, Publizisten und Politiker Heinrich Wuttke zu sehen. Sein Werk »Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung« (Wuttke 1866) stellt eine »scharfe Absage an das Bismarcksche System der Korrumpierung der Presse durch das Anzeigenwesen« dar (Koszyk/Pruys 1976, S. 10; vgl. auch Groth 1948, S. 209–244).
Eine wichtige Strömung ist des Weiteren in dem im 19. Jahrhundert aufkommenden Historismus zu sehen. Man versteht darunter die Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene unter dem Aspekt [35]ihrer historischen Genese. Zu den prominenten Pressehistoriografen gehören Robert E. Prutz und Ludwig Salomon. Prutz veröffentlichte 1845 die erste »Geschichte des deutschen Journalismus«, eine groß angelegte Gesamtgeschichte des deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenwesens bis in die Zeit des Vormärz (Prutz 1845). Von Salomon stammt eine zwischen 1900 und 1906 in drei Bänden veröffentlichte »Geschichte des Deutschen Zeitungswesens« (Salomon 1906); sie galt lange Zeit als Standardwerk, ist inzwischen aber längst überholt.
Die 1848 erfolgte Aufhebung der Zensur hatte eine rasche Ausdifferenzierung des Pressewesens sowie eine rapide Vermehrung des Anzeigenaufkommens (v. a. in der sog. Generalanzeigerpresse) zur Folge. Die wirtschaftliche Bedeutung der Zeitungen wurde zunehmend evident. So verwundert es nicht, dass sich Nationalökonomen und frühe Soziologen des Presse- und Nachrichtenwesens annehmen. Von Karl Knies, dem Begründer der modernen Nationalökonomie, stammt zweierlei: eine auf der Ausdifferenzierung des Nachrichtenwesens aufbauende Informationstheorie; sowie eine Theorie der Geschäftsanzeige in ihrer volkswirtschaftlichen Funktion, nämlich die Steuerung von Angebot und Nachfrage durch das Anzeigenwesen (vgl. Knies 1857; Meyen/Löblich 2006, S. 89ff). Der Soziologe Albert E. Schäffle verweist in seinem Hauptwerk »Bau und Leben des socialen Körpers« (Schäffle 1875; vgl. auch Schäffle 1873) auf die eminente Bedeutung der Pressfreiheit für das Funktionieren der Gesellschaft und sieht in der öffentlichen Meinung die »Reaktion des Publikums«, getragen von »Wertbestimmungen«. Gleichzeitig manifestiert sich für ihn in der Tagespresse ein »Erzeugnis der bürgerlichen, kapitalistischen Epoche« und er verurteilt »Preßkorruption« und »Preßmißbrauch« (Groth 1948, S. 255–282; siehe auch Meyen/Löblich 2006, S. 109ff).
Der Nationalökonom und Begründer der Zeitungskunde, Karl Bücher, war sowohl Zeitungsstatistiker wie auch Zeitungshistoriker. Von ihm stammt eine Fülle zeitungskundlicher und zeitungswirtschaftlicher Veröffentlichungen (vgl. Bücher 1926; Groth 1948, S. 354f). Die Bedeutung der Zeitung sieht er in ihrer Leistung als Vermittler »zwischen dem Volk und seinen führenden Geistern«, als »Stützorgan der Volkswirtschaft« sowie als »Organ der öffentlichen Meinung«. Der kulturelle Nutzen der Tagespresse ist für ihn unbestritten, ihren Schaden sieht er in ihrer Eigenschaft als »kapitalistische Unternehmung«. Insgesamt betrachtete Bücher die Geschichte des Zeitungswesens als einen Teil der Kulturgeschichte (vgl. Groth 1948, S. 282–296). Zu den Soziologen, die sich der Presse widmeten, gehört auch Max Weber. Er selbst hat zwar kein Werk über die Presse geschrieben; von ihm stammt allerdings ein 1910 erarbeiteter Grundriss zu einer »Soziologie des Zeitungswesens« (Weber 1911, S. 39–62; vgl. Kutsch 1988a, S. 5–31; Meyen/Löblich 2006, S. 145ff), der nie realisiert wurde, sondern einem Professorenstreit zum Opfer fiel (vgl. Obst 1986, S. 45–62). Eine angemessene Würdigung dieses Grundrisses stammt von Siegfried Weischenberg (2012).
Speziell dem Nachrichtenwesen widmete sich Wolfgang Riepl in seinem 1913 publizierten Buch »Das Nachrichtenwesen des Altertums« (Riepl 1913). Riepl erarbeitete allgemeine Prinzipien und Gesetze des Nachrichtenverkehrs; von ihm stammt das Gesetz, wonach neu aufkommende Medien die alten nie gänzlich verdrängt, sondern diese gezwungen haben, »andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen« (Riepl 1913, S. 5). Riepl erkannte, wie wir heute sagen würden, den Zusammenhang von Kommunikation und gesellschaftlichem Wandel (vgl. Lerg 1977, S. 9–24; und 1986, S. 134).
Als Zwischenfazit der Fachgeschichte lässt sich festhalten: Das Erkenntnisinteresse an publizistischen Phänomenen, vorwiegend an der Presse, ist bis zum 20. Jahrhundert »eng verbunden mit den kulturellen und politischen Energien der jeweiligen Zeiten« und es »kumuliert in den Namen nicht weniger weltaufgeschlossener, universaler Gelehrter«; jedoch »führten diese […] von einem persönlichen Engagement durchpulsten Untersuchungen […] nicht dazu, eine selbständige Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft an den deutschen Universitäten durchzusetzen« (Kieslich 1972, S. 71f). Man [36]muss aber einräumen, dass insbesondere in Löffler, Schäffle und Bücher Wegbereiter für die Etablierung der wissenschaftlichen Zeitungskunde zu sehen sind.
2.5 Wissenschaftliche Zeitungskunde – Zeitungswissenschaft
Lehraufträge und Seminare für Zeitungskunde gab es an Universitäten und Hochschulen des deutschen Sprachraumes bereits vor der und um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Sie gingen im Wesentlichen auf persönliche Initiativen von Hochschullehrern verschiedener Fachgebiete zurück (vgl. Wagner 1997, S. 133). Auch sind bereits vor der Jahrhundertwende Promotionen über zeitungskundliche bzw. zeitungswissenschaftliche Themen aus verschiedenen Fachgebieten wie Jurisprudenz, Nationalökonomie, Geschichte etc. bekannt (vgl. Jaeger 1926, S. 17ff). Der in Deutschland früheste Versuch, das Fach zu institutionalisieren, geht auf ein »Journalistisches Seminar« an der Universität Heidelberg zurück. Es wurde 1897 von Adolf Koch eingerichtet und bestand bis 1912 (vgl. Jaeger 1926, S. 12; Obst 1986, S. 45ff).
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