Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer

Publizistik- und Kommunikationswissenschaft - Heinz Pürer


Скачать книгу
Einen anschaulichen Überblick über die Entwicklung der hochschulgebundenen Journalistenausbildung im deutschen Sprachraum aus den zurückliegenden 40 Jahren vermittelte zuletzt in Form einer Textcollage Walter Hömberg (2010).

      Wie bereits erwähnt, verzeichnete die Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in Ostdeutschland eine andere Entwicklung: Das Fach wurde erneut in den Dienst einer Ideologie gestellt. Es nahm dabei die Entwicklung von der Publizistikwissenschaft zur Journalistikwissenschaft (vgl. Blaum 1979; 1980; 1985).

      Das 1916 durch Karl Bücher in Leipzig eingerichtete Institut für Zeitungskunde (später: Zeitungswissenschaft) bestand bis 1945. Es wurde 1946 von Gerhard Menz an der neu etablierten Sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als Institut für Publizistik wiedererrichtet (vgl. Münster 1956, S. 305–309), fand jedoch nicht die Billigung der SED. So folgte 1948 die Gründung eines gleichnamigen Instituts an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät unter der Leitung von Hermann Budzislawski. Dieser bemühte sich gemeinsam mit einer Reihe namhafter »antifaschistischer Intellektueller« um einen neuen »antifaschistisch-demokratischen Geist« an der Universität (Schlimper 1996, S. 5). Beide Institute gingen auf in einem 1951 etablierten »Institut für Publizistik- und Zeitungswissenschaft«, das nun – nach der 1950 erfolgten Auflösung der Gesellschaftswissenschaftlichen Institute – der Philosophischen Fakultät angehörte. Diese Gründung entsprach wieder einer ausdrücklichen Forderung der ersten Pressekonferenz des Parteivorstandes der Sozialistischen Einheitspartei (SED) aus dem Jahr 1950, wonach das System »Massenkommunikation« in der damaligen SBZ stärker nach Parteiinteressen auszurichten war (vgl. Blaum 1979, S. 20ff). Das Institut ging 1954 in der nach sowjetischem Vorbild gegründeten »Fakultät für Journalistik« auf. Deren Bemühung bestand darin, auf der Basis der Lehre des Marxismus-Leninismus in Theorie und Praxis die »Formung zuverlässiger Kader« zu betreiben (Schlimper 1996, S. 5). Zudem wurde der Begriff »Journalistik« dem der »Publizistik« bzw. der »Zeitungswissenschaft« vorgezogen, »weil er a) die aktive Einwirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung hervorhebe, b) sich nicht nur auf die Zeitung, sondern auch auf andere Instrumente, z. B. den Rundfunk beziehe, c) in der Sowjetunion und anderen Ländern üblich sei und d) sich von der bürgerlichen Tradition abgrenze« (Liebert 1995, S. 7). Die »Fakultät für Journalistik« wurde 1969 erneut reorganisiert. Es entstand die »Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig«, nach wie vor die einzige Einrichtung dieser Art in der DDR, an der nun das Studium der Diplomjournalistik absolviert werden konnte (vgl. Blaum 1979, S. 23f). Das Studium verzahnte theoretische Kenntnisse, insbesondere des Marxismus-Leninismus mit einer praktisch-handwerklichen Ausbildung auf Basis der Lenin’schen Pressetheorie (vgl. Blaum 1980). Auf ein zweisemestriges Grundstudium (sozialistische Gesellschaftstheorie, wissenschaftliche Arbeitsmethoden, Grundkenntnisse des Journalismus) folgte ein viersemestriges Fachstudium (unmittelbare journalistische Ausbildung in Theorie und Praxis) sowie ein zweisemestriges, medienspezifisches und fachjournalistisches Spezialstudium. Das Studium wurde mit einer Diplomprüfung (wissenschaftliche und praktische Abschlussarbeit) abgeschlossen. Rund 800 Studierenden standen bis an die 80 Lehrende gegenüber.

      In der DDR konnte in aller Regel nur journalistisch tätig sein, wer entweder das Journalistikstudium absolvierte oder sich an der Fachschule für Journalistik (ebenfalls Leipzig) eine entsprechende Ausbildung aneignete. Der Zugang zum Journalistikstudium war zudem an Voraussetzungen gebunden. So musste jeder Interessent nicht nur das Abitur, sondern auch ein einjähriges Volontariat in einer Presse-, Hörfunk- oder Fernsehredaktion nachweisen. Geschätzt wurden des Weiteren Praxiserfahrungen in einem Produktionsbetrieb, günstigstenfalls ein Facharbeiterbrief. Von Vorteil für die Aufnahme in den Studiengang war auch eine feste Parteibindung sowie ein Engagement im FDJ, dem Freien Deutschen Jugendverband, einer Vorfeldorganisation der SED (vgl. Blaum 1985, S. 87ff). Die »Sektion Journalistik der Karl-Marx-Universität Leipzig« bestand bis 1990. Nach der Wende versuchte sie einen Neubeginn, der durch die im Dezember 1990 per Dekret verordnete Abwicklung [51]jedoch im Ansatz unterbrochen wurde (vgl. Schlimper 1996, S. 5). Von dieser Abwicklung betroffen waren auch zahlreiche Wissenschaftler, die sich in der DDR in besonderer Weise der herrschenden Lehre des Marxismus-Leninismus verschrieben bzw. unterworfen hatten.

      Zu einem Neubeginn kam es in Leipzig ab 1991/92. Dem vom sächsischen Kultusminister nach Leipzig geholten Gründungsdekan Karl Friedrich Reimers von der Hochschule für Fernsehen und Film (HFF) München gelang es, einen Fachbereich Kommunikations- und Medienwissenschaft mit neun planmäßigen Professorenstellen aufzubauen (Reimers 2003). Zentrales Anliegen von Reimers war es, das Fach aus seiner ideologischen Fixierung und politischen Instrumentalisierung herauszulösen und ganz neu für den schöpferischen Wissenschaftspluralismus zu öffnen (vgl. Steinmetz 1997, S. 9; Reimers 2003).

      Neben Leipzig wurden in den neuen Bundesländern des Weiteren Professuren für Kommunikationswissenschaft, Medienwissenschaft, Journalistik u. Ä. mit je unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten an der Technischen Universität Dresden, an den (teils neu errichteten) Universitäten Erfurt, Greifswald, Halle-Wittenberg, Ilmenau, Jena, Magdeburg und Weimar sowie an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« Potsdam-Babelsberg eingerichtet. Vor allem die Freistaaten Sachsen und Thüringen engagierten sich für die Kommunikations- und Medienwissenschaft überdurchschnittlich (vgl. Ruhrmann et al. 2000, S. 286ff). Die inhaltliche Ausrichtung der neuen Professuren versuchte, dem beobachtbaren Medienwandel gerecht zu werden (vgl. Ruhrmann et al. 2000, S. 292f).

      Die Kommunikationswissenschaft ist eine nach wie vor nicht gerade üppig ausgestattete Disziplin. Sie hat aber seit 1975 durch die Neu- oder – wie etwa in den neuen Bundesländern – Wiederbegründung von Instituten, Lehrstühlen, Professuren und Studiengängen einen durchaus beachtenswerten Aufschwung genommen (vgl. Ruhrmann et al. 2000). Während in den 1970er-Jahren kommunikationswissenschaftliche »Programme und Postulate« (Stichwort: Professionalisierung der Journalistenausbildung) aufgestellt wurden, folgte in den 1980er-Jahren eine Phase der Institutionalisierung und Etablierung, in den 1990er-Jahren schließlich »Expansion und Differenzierung« (Hömberg 2000, S. 21f). Diese Entwicklung lässt sich anhand konkreter Zahlen festmachen. 1970 verfügte das Fach in Deutschland über sieben Professorenstellen, 1990 waren es bereits 54 Stellen, im Jahr 2002 insgesamt 85 Professuren (Huber 2010, S 27). Nathalie Huber ermittelte 2007 im gesamtdeutschen Raum 34 kommunikationswissenschaftliche Institute (Kern) sowie 103 Professoren (Huber 2010, S. 115). Da seither an mehreren Instituten noch weitere Professorenstellen eingerichtet wurden, kann man gegenwärtig (2012) von etwa 115 bis 120 Professorenstellen ausgehen. Zu (Auto-)Biografien und Fachverständnis von Professoren liegen mehrere, theoretisch und empirisch teils unterschiedlich angelegte Studien vor (vgl. z. B. Kutsch/Pöttker 1997; Löblich 2004; Meyen 2004; Meyen/Löblich 2007, 2008; Scheu/Wiedemann 2008; Huber 2010; Scheu 2012). Ergebnisse einer Befragung zu den Forschungsleistungen des Faches liegen von Almeppen et al. (2011) vor, einen Vorschlag zu einer Systematisierung des Faches auf empirischer Grundlage stammt ebenfalls von Altmeppen et al. (2013).

      [52]Seinen Aufschwung stellt das Fach aber auch durch seine vielfältigen Forschungsaktivitäten sowie durch eine sich geradezu explosionsartig vermehrende Publikationstätigkeit eindrucksvoll unter Beweis. Darunter befinden sich mittlerweile u. a. zahlreiche Lehr- und Handbücher sowie Lexika (vgl. Wendelin 2008). Solche Publikationen spielen für eine Wissenschaft eine wichtige Rolle: Sie schildern »Leistungen der Vergangenheit«, sorgen für »Tradierung und Reproduktion wissenschaftlichen Wissens«, können auch »als Indikator für Kanonbildung gesehen werden und sind damit für die »kognitive Identität« einer Wissenschaft von Bedeutung (Wendelin 2008, S. 28).

      Wolfram Peiser et al. ermittelten 2003 Daten »Zur Lage der Kommunikationswissenschaft und ihrer Fachgesellschaft«. 89,2 Prozent der Befragten waren der Meinung, dass die sozialwissenschaftliche Perspektive wichtig sei, 92,6 Prozent gaben an, eine sozialwissenschaftliche Position zu vertreten (Peiser et al. 2003, S. 320–327). Mit der Berufssituation und den Karrierestrategien des promovierten wissenschaftlichen Nachwuchses im Fach haben sich Werner Wirth et al. 2008 befasst (Wirth et al. 2008); zu Einstiegsmotivation und Arbeitssituation des wissenschaftlichen Nachwuchses liegen


Скачать книгу