Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
Als Herausgeforderte sieht Löblich primär Emil Dovifat (Berlin) und Wilmont Haacke, der 1963 auf einen Lehrstuhl für Publizistik in Göttingen berufen wurde, davor jedoch auch schon im Fach wissenschaftlich tätig war. Beide mussten sich in ihrem Fachverständnis durch jenes der Herausforderer angegriffen fühlen, »zuvorderst der ›Nestor‹ des Fachs, Emil Dovifat, aber auch sein Göttinger Kollege Wilmont Haacke. Beide hatten ihre Position der bisherigen geisteswissenschaftlichen Ausrichtung des Faches zu verdanken und diese stand nun auf dem Spiel. Sie versuchten, den gegen ihr Fachverständnis wirkenden Selektionsdruck abzuwehren« (Löblich 2010b, S. 552). Beide seien sich weitgehend einig darüber gewesen, »dass Wirkungsforschung abzulehnen und das Fach als normative Disziplin zu erhalten war« (ebd.). Haacke habe »Ressentiments gegenüber der Umfrageforschung gehabt, Dovifat habe vor einem Rückfall in die ›Werturteilsfreiheit‹ gewarnt: »Normativ musste das Fach aus seiner Sicht nicht zuletzt auch sein, weil es Journalisten Gesinnung und Ethik vermitteln sollte. Die für diese Aufgabe notwendige allgemein verständliche Sprache sah Dovifat von der um sich greifenden Terminologie der analytischen Wissenschaftstheorie bedroht« (Löblich 2010b, S. 552f). Beide, Dovifat und Haacke, hätten mit »Widerstand und Verweigerung auf die Veränderungen im Fach reagiert« (Löblich 2010b, S. 555). Anders sieht dies mit Blick auf Wilmont Haacke der Göttinger Kommunikationswissenschaftler Wilfried Scharf. Haacke habe in seinem Werk »Publizistik und Gesellschaft« (1970) den empirisch-analytischen Ansatz innerhalb der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft verbunden; dieser Ansatz habe sich »seit den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts durchgesetzt« (Scharf 2001, S. 69).
Der empirische Neuansatz in der Publizistikwissenschaft »wurde auch in der sich langsam entwickelnden Sphäre der Wissenschaftsplanung von Bund und Ländern wahrgenommen« (Bohrmann 1997, S. 60). So empfahl der Wissenschaftsrat 1965, Einrichtungen zu schaffen, die mit universitären Instituten kooperieren sollten: das Institut für den Wissenschaftlichen Film (Göttingen), das Institut für Zeitungsforschung Dortmund, das Hans-Bredow-Institut für Rundfunkforschung sowie die Deutsche Presseforschung Bremen (vgl. Bohrmann 1997, S. 60). Generell darf man sagen, dass die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende »als Markstein in der Entwicklung des Fachs, als Fundament des heutigen Selbstverständnisses« und »Voraussetzung für Konsolidierung und Ausbau seit den 1970er Jahren« gilt (Löblich 2010a, S. 13). Der Neuansatz führte zu vielfältiger empirischer Forschung in den Bereichen Kommunikator-/Journalismusforschung, Medieninhaltsforschung, Medienstrukturforschung, [46]Rezipienten- und Wirkungsforschung. Politologische, soziologische sowie (sozial-) psychologische Denkansätze wurden dabei berücksichtigt. Die zunehmend (und heute vorwiegend) empirisch betriebene Publizistikwissenschaft mutierte allmählich zur Kommunikationswissenschaft (vgl. Kutsch/Pöttker 1997).
Dass sich die Inhalte des Faches infolge der empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende tatsächlich gewandelt haben, ist einer Inhaltsanalyse der 1956 gegründeten Fachzeitschrift Publizistik für die Zeiträume 1956 bis 1969 (Zeitraum 1) sowie 1970 bis 1980 (Zeitraum 2) zu entnehmen (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009). In Form einer Vollerhebung flossen 767 Beiträge in die Analyse ein. Vergleicht man die Entwicklung der fünf wichtigsten Forschungsthemen, so fällt das Forschungsthema »Mediengeschichte« im zweiten Zeitraum gegenüber dem ersten von 24 Prozent der Beiträge auf elf Prozent zurück. Die Forschungsthemen »Fachdiskussion/-geschichte« steigen von Zeitraum 1 mit zehn Prozent der Beiträge auf 23 Prozent im Zeitraum 2 an. »Journalismus«-Forschung nimmt vom ersten zum zweiten Zeitraum um acht Prozent zu. Dagegen gibt es bei den Themen »Medieninhalte« und »Kommunikationspolitik« wenig Veränderung (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 57). Bezüglich der Methodenverwendung fallen »Geisteswissenschaftliche Methoden« im Zeitverlauf von 71 Prozent auf 51 Prozent zurück, »Sozialwissenschaftliche Methoden« steigen von acht auf 22 Prozent an (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 59). Die Autorinnen resümieren: Die geisteswissenschaftliche Forschung überwog zwar weiterhin, allerdings war deren Dominanz 1980 »viel weniger ausgeprägt als zu Beginn des Untersuchungszeitraums.« Dagegen hat eine »dramatische Veränderung […] in der Mediengeschichte stattgefunden. Das vormals stärkste Forschungsthema schrumpfte zu einem Randgebiet. Außerdem hat sich gezeigt, dass die Fachvertreter bei der Wahl ihrer Themen sich sehr viel stärker an aktuellen Problemen orientierten, an Themen, zu denen gesellschaftlicher Wissensbedarf bestand. […] Die Jahre 1968/69 markierten die Trendwende im Untersuchungszeitraum« (Löblich/Pfaff-Rüdiger 2009, S. 61).
Der Aufbruch des Faches von einer (primär) geisteswissenschaftlichen Disziplin zu einer sozialwissenschaftlichen wird, wie hier dargelegt, allgemein in den 1960er-Jahren verortet. Dies ist uneingeschränkt so nicht richtig. Sozialwissenschaftliches Denken hat es (in Ansätzen zumindest) bereits vor der empirischen Wende gegeben. Es hatte aber im Fach keine mittel- bis langfristigen Konsequenzen. Auf folgende Aspekte ist hinzuweisen:
Zum einen, dass es bereits in der Zeitungswissenschaft der Weimarer Republik Berührungen mit der (empirischen) Soziologie und soziologischen Perspektiven gab (vgl. Averbeck 1999, 2001; auch Koszyk 1997, S. 38ff). Stefanie Averbeck spricht von immerhin zwanzig Wissenschaftlern, die dem interdisziplinären Milieu zuzurechnen waren, von denen aber viele emigrierten bzw. emigrieren mussten (vgl. Averbeck 2001, S. 7ff). Neben vielen anderen verweist sie insbesondere auf Protagonisten wie Kurt Baschwitz, Karl Mannheim, Gerhard Münzer, Ernst Manheim und Emil Willems. Sie alle hatten nach 1945 jedoch Professuren außerhalb Deutschlands und in anderen Fächern inne, so dass es »keine personelle Kontinuität zwischen dem interdisziplinären Milieu der Weimarer Zeit und der Publizistikwissenschaft der Bundesrepublik [gab]« (Averbeck 2001, S. 16; Hervorhebung i. Orig.). »Der Anknüpfungspunkt der deutschen Kommunikationswissenschaft nach 1945«, so Averbeck weiter »war die angloamerikanische Literatur« (ebd.).
Zum Zweiten soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hans Amandus Münster, der von 1934 bis 1945 Ordinarius für Zeitungswissenschaft in Leipzig war und sich in dieser Zeit, wie erwähnt, der nationalsozialistischen Ideologie verschrieb, durch seine früheren Studien bei Leopold von Wiese und Ferdinand Tönnies einen soziologischen und psychologischen Hintergrund hatte. Er interessierte sich besonders für die Erforschung des Verhältnisses von Presse und öffentlicher Meinung. 1931 erarbeitete er – damals noch als Mitarbeiter bei Emil Dovifat in Berlin – eine umfangreiche empirische Studie über »Jugend und Zeitung« mit in Deutschland reichsweit mehreren tausend befragten [47]Jugendlichen zwischen zwölf und zwanzig Jahren. Die Studie, geprägt durch die volkspädagogische Aufgabenstellung des Faches dieser Zeit (Straetz 1984), war v. a. bei Kollegen anderer Disziplinen umstritten. Gleichwohl war sie »die erste und lange Zeit umfangreichste Studie dieser Art« (Straetz 1984, S. 79). Dieser Ansatz der empirischen Rezipientenforschung wurde durch die politischen Ereignisse ab 1933, durch die Berufung Münsters an das Leipziger Institut sowie infolge unterschiedlicher Auffassungen über die Aufgabenstellung der Zeitungs- bzw. Publizistikwissenschaft im Nationalsozialismus nicht mehr fortgeführt.
Zum Dritten entstanden bereits in den 1950er-Jahren unter Walter Hagemann am Institut für Publizistik der Universität Münster (methodisch-statistisch noch relativ wenig elaborierte) Inhaltsanalysen von Zeitungen und Zeitschriften, ebenso Zeitungs- und Zeitschriftenstatistiken, Befragungen von Zeitungslesern, Film- und Wochenschaubesuchern sowie auch eine Untersuchung zur sozialen Lage des deutschen Journalistenstandes (vgl. Löblich 2009, 2010a, S. 118ff; Hagemann 1956). Auch die von Hagemann-Schüler Günter Kieslich angefertigte Fallstudie »Freizeitgestaltung in einer Industriestadt« (Kieslich 1956) ist z. B. zu erwähnen. Dass Hagemanns Rolle »bei der Umorientierung der Publizistikwissenschaft von einer Geisteswissenschaft zu einer empirischen Sozialwissenschaft bislang nicht wahrgenommen worden [ist]« und weitgehend in Vergessenheit geriet, hat u. a. mit dessen Ausscheiden aus der Universität 1959, mit der Flucht 1961 in die DDR zur Zeit des Kalten Krieges sowie mit dessen Auftreten dort als »Nestbeschmutzer« zu tun (Löblich 2010a, S. 128 mit Bezugnahme auf Schütz 2007, S. 41). Keiner seiner ehemaligen Mitarbeiter und Absolventen »habe da öffentlich als Hagemann-Schüler auftreten und sich selbst gefährden wollen« (ebd.). Mit Leben und Werk Walter Hagemanns befasst sich ausführlich Thomas Wiedemann (2012).
Schließlich viertens: Zwei prominente Protagonisten der US-amerikanischen Kommunikationsforschung, nämlich Paul Lazarsfeld und Kurt Lewin, stammten aus Europa. Die beiden Österreicher entzogen sich wegen ihrer jüdischen Herkunft der Verfolgung durch den Nationalsozialismus, indem