Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Heinz Pürer
2006; Springer 2011, 2012; Taddicken/Bund 2010; Busemann/Gscheidle 2012):
• Onlinecommunitys finden sich i. d. R. aufgrund eines gemeinsamen Ziels oder Interesses zusammen (vgl. Taddicken/Bund 2010, S. 169).
• Die Community-Forschung bestätigt immer wieder die sog. 90-9-1-Regel (Nielsen 2012): Für den Großteil der Beiträge ist nur ein Prozent der Nutzerschaft verantwortlich; weitere neun Prozent beteiligen sich von Zeit zu Zeit, während der überwiegende Teil von 90 Prozent passiv-rezeptiv bleibt und nur beobachtet.
• Mit Ausnahme von Social Network Services kennen sich die Mitglieder virtueller Gemeinschaften in aller Regel nicht persönlich und geben sich weitgehend auch nicht durch ihren realen Namen zu erkennen. Vielmehr nutzen sie Medienidentitäten, die kommunikative Rückbezüge möglich machen. »Inwieweit eine mediale Identität hin zur persönlichen Identität geöffnet wird, ist nicht nur beziehungsspezifisch […], sondern auch abhängig von den Möglichkeiten, wie Medienidentitäten in Foren computervermittelter Kommunikation präsentiert werden können« (Höflich 1995, S. 526).
• Statusunterschiede sowie Geschlecht, Alter, ethnische Abstammung, nationale Herkunft, physisches Aussehen etc. spielen in virtuellen Gemeinschaften wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle. In diesen Communitys herrscht im Hinblick auf Äußerlichkeiten eher eine auf Egalität basierende Geselligkeit. In der Welt der Netzwerke wird der Einfluss nicht »an Reichtum und Macht [gemessen], sondern daran, wie gut man schreibt oder argumentiert« (Höflich 1995, S. 524).
• Die Partizipation an virtuellen Gemeinschaften erfordert folglich v. a. die »Fähigkeit, themenbezogen mitreden, oder besser: mitschreiben zu können« (ebd.). Daraus können sich aber auch neue Machtstrukturen ergeben: Heavy User sind nicht selten sehr argumentierfreudig, verfügen über eine hohe Einstellungsstärke und sind damit teilweise – bewusst – auch äußerst streitbar (für ein relativ aktuelles Beispiel vgl. Oetting 2012). Oft haben Vielnutzer bestimmte Sonder(wie [99]z. B. Administratoren-)Rechte – selbst bei Bottom-up-Projekten wie Wikipedia sind damit nicht alle Teilnehmer gleichberechtigt (vgl. Stegbauer/Bauer 2008; Cerquitelli et al. 2011, S. 25f; Roessing 2013).
• Der Umgangston in virtuellen Gemeinschaften (insbesondere in jenen, die Anonymität gewährleisten) ist daher nicht selten rau. Da die streitlustigen Nutzer oft die aktivsten und damit die geübtesten Diskutanten sind, können sie ungeübte und weniger auseinandersetzungsfreudige Nutzer zum Schweigen bringen und verdrängen, so finden sich in ihrer Meinung recht homogene Grüppchen zusammen.
• Dennoch realisieren die Teilnehmer in virtuellen Gemeinschaften ihre Interessen und Kommunikationsabsichten zusammen mit anderen. In vielen dieser Communitys gibt es daher eine »Verpflichtung auf gemeinsame Gebrauchsweisen, seien diese sozio-emotional oder informativsachbezogen motiviert« (Höflich 1995, S. 528; Hervorhebung i. Orig.). Diese beiden Nutzungsmotivklassen (Informationssuche und Bedürfnis nach Beziehungen bzw. Zugehörigkeit und Unterstützung) werden von der Community-Forschung in Untersuchungen zu unterschiedlichsten Gemeinschaften immer wieder bestätigt – darüber hinaus spielen auch Motive des Identitätsmanagements (z. B. Selbstbestätigung und -darstellung) eine bedeutende Rolle.
• Die Gebrauchsweisen manifestieren sich in sog. Medienregeln und »stellen eine intersubjektive Grundlage der Medienverwendung dar, die es der handelnden Person ermöglicht, ihre Kommunikationsabsichten erwartbar zu realisieren« (Höflich 1995, S. 529). Solche Medienregeln sind in zahlreichen virtuellen Gemeinschaften in Form von Verhaltenscodes (Netiquetten) festgelegt und beziehen sich auf Form und Ablauf der Kommunikation. Die Regelwerke enthalten nicht nur technische, sondern v. a. auch sozial-kommunikative Anleitungen – Gebote und Verhaltensstandards also, die von den Teilnehmern der jeweiligen Gemeinschaft einzuhalten sind. Weil die Teilnehmer elektronischer Gemeinschaften viel Zeit und Arbeit in den Aufbau einer Community stecken, sind sie i. d. R. an der Einhaltung dieser Standards interessiert und maßregeln Abweichler eigenständig.
• Um die dramaturgische Schwäche der Computerkonversation (z. B. ein Fehlen der Mimik und Gestik des Gegenübers) durch eine »elektronische Parasprache« auszugleichen, haben sich in der computervermittelten Kommunikation spezielle Zeichenkomplexe entwickelt. Diese Zeichen (-komplexe) dienen v. a. der interpretationsfördernden Kontextualisierung der schriftlich übermittelten Inhalte. Dazu gehören z. B. Abkürzungen und Akronyme (wie ROFL für ›Rolling on (the) floor laughing‹ – deutsch: sich lachend auf dem Boden kringeln) oder »die als Emoticons bezeichneten emotionsanzeigenden Ikone, wie die sog. Smileys« (Höflich 1995, S. 531), die Stimmungen (Spaß, gute Laune, Fröhlichkeit, aber auch das Gegenteil) vermitteln bzw. das Geschriebene in einen emotionalen Kontext setzen (z. B. Ironie).
3.3.6 Neue Begriffe?
Elektronisch mediatisierte Kommunikation eröffnet, wie dargelegt, kommunikative Möglichkeiten, die weder in der traditionellen Telekommunikation noch in der klassischen Massenkommunikation möglich waren. Sie wirken letztlich auch auf die Begrifflichkeiten zurück, die in der Kommunikationsforschung vorzufinden sind. Nicht nur Lutz Goertz meint, dass das bisherige Vokabular (Kommunikator, Rezipient) bei der Übertragung auf interaktive Medien nicht mehr greift (Goertz 1995, S. 484, vgl. z. B. auch Schweiger/Quiring 2007). Die Modifikation des Rezipientenbegriffs »wird notwendig, weil der Rezipient nun auch in den Kommunikationsprozess eingreifen kann, also nicht nur ›Aufnehmender‹ ist« (Goertz 1995, S. 484). Kommunikatoren hingegen produzieren im Extremfall [100](z. B. als Anbieter einer Plattform für nutzergenerierte Inhalte) im Internet überhaupt keine Aussagen mehr, sondern kontrollieren lediglich den technischen Ablauf der Kommunikation. Für die computervermittelte (Massen-)Kommunikation wurden daher von verschiedenen Autoren folgende Begriffsvorschläge vorgelegt (vgl. u. a. Goertz 1995, S. 484; Weinreich 1998; Schweiger/Quiring 2007; Bruns 2009):
alter Begriff | neuer Begriff |
Rezipienten | 1) Beteiligte, Partizipienten, Produser (aktiv) 2) Nutzer (aktiv und passiv-rezeptiv) 3) Lurker (passiv-rezeptiv) |
Kommunikatoren | Organisierende Beteiligte, Anbieter, Produzenten (i. S. v. klassischen Medien, Journalisten) |
Wie bereits erwähnt ermöglicht Interaktivität einen Rollenwechsel zwischen Sender und Empfänger. Dieses Kommunikationspotenzial kann, muss aber nicht ausgeschöpft werden. Während sich der Begriff ›Nutzer‹ sowohl für die Bezeichnung der aktiven (Inhalte produzierenden) wie auch passiv-rezeptiven Kommunikationsteilnehmer eignet, unterstreichen Begriffe wie ›Beteiligte‹, ›Partizipienten‹ oder ›Produser‹ die aktive Rollenausübung, der Term ›Lurker‹ (von englisch to lurk: sich versteckt halten) bleibt für die ausschließlich passiv-rezeptive Nutzung vorbehalten. Der Gleichklang der beiden Begriffe ›Beteilig-te‹ (im Sinne von aktiven Nutzern) und ›organisierende Beteiligte‹ (als neuer Begriff für Kommunikatoren) soll verdeutlichen, dass beide im Kommunikationsprozess »zumindest theoretisch auf einer Stufe stehen können« (Goertz 1995, S. 484; vgl. auch Bruns 2009).
Auch ist es unzutreffend, das Internet mit dem Begriff ›(Massen-)Medium‹ zu labeln (vgl. Beck 2010, S. 15ff): Während man »früher ein Gerät, einen Kommunikationsdienst und die zugehörigen Kommunikatorinstitutionen« (Goertz 1995, S. 484f) noch gleichsetzen konnte, wie z. B. beim Fernsehen, so können heute unterschiedliche Geräte funktional die gleichen Aufgaben wahrnehmen (man denke z. B. an die Zugangswege zum Internet: via Computer, Spielkonsole oder Fernsehgerät), und umgekehrt kann ein Gerät verschiedene Funktionen übernehmen (z. B. dient der Computer der Textverarbeitung, der Datenkommunikation oder auch als Fernsehgerät). Computervermittelte (Massen-)Kommunikation macht es folglich notwendig, statt mit gerätebasierten mit inhaltebasierten Definitionen zu arbeiten. Klaus Beck schlägt daher vor, Medien als »dauerhaft institutionalisierte und technisch basierte Zeichensysteme zur organisierten Kommunikation« (Beck 2010, S. 15) zu definieren und das Internet aufgrund seiner Vielgestaltigkeit und Heterogenität folglich als »technische Plattform oder Mediennetz« (ebd.) zu beschreiben, und nicht als ein Massenmedium an sich.
Die hier aufgezählten Begrifflichkeiten haben in der Kommunikationswissenschaft inzwischen Fuß gefasst, auch wenn sich bisher keine eindeutig durchsetzen konnte. Sie haben z. B. Eingang gefunden in eine modellhafte Darstellung computervermittelter (Gemeinschafts-)Kommunikation von Walter