Historisch Arbeiten. Georg Eckert
– beide brauchen Zitationsweisen, die ihren Quellen gerecht werden, beide benötigen eigene Standardwerke, Fachzeitschriften, Datenbanken und vieles mehr. Sämtliche Spezialdisziplinen und ihre Instrumente aufzulisten, würde den Rahmen dieser Einführung sprengen;7 deshalb finden Sie im Folgenden nur gelegentlich kursorische Verweise auf das jeweils epochen-, disziplin- und quellenspezifische Handwerkszeug – und Beispiele, an denen sichtbar wird, was alle Teilfächer eben doch verbindet.
Denn egal, welche Epoche Sie anhand welcher Quellen und mit welcher Fragestellung untersuchen: Das Prinzip bleibt sich gleich. Historisch Arbeiten verbindet alle, die sich der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte beziehungsweise spezifischer Geschichten widmen. Es bezeichnet eine Denkweise, die wir gemeinsam pflegen – unabhängig vom Gegenstand, an dem wir arbeiten: Wir wollen Vergangenes erklären. Das ureigene Material aller Historiker dazu sind Quellen. Jenseits aller notwendigen Spezialisierungen lautet das besagte gemeinsame Prinzip: „ad fontes“, das heißt: „zu den Quellen“!
Kurzum
Wer historisch arbeitet, richtet seinen Blick immer ad fontes: Jede Untersuchung muss von Quellen ausgehen, dem Rohstoff aller historischen Erkenntnisbildung – und sich mit ihnen auf dem jüngsten Stand der Literatur befassen, also den Werkzeugen der Erkenntnis. Bindeglied zwischen beiden Elementen ist die jeweilige Fragestellung: der Aspekt, unter dem Sie die von Ihnen ausgewählte Quelle untersuchen und erklären.
Was heißt „Historisch Arbeiten“? Zur Orientierung
Umgangsweisen mit Geschichte gibt es viele. Nicht alle davon sind wissenschaftlich angeleitet. Das ist so, und wahrscheinlich muss es sogar so sein. Geschichte gehört nicht den Historikern allein, sondern ist formender Bestandteil kollektiver und individueller Identitäten. Sie dient persönlicher wie gesellschaftlicher Selbstverständigung. Deshalb werden selbst tagespolitische Diskussionen immer wieder im Medium der Geschichte geführt, deshalb betreiben Geschichts-philosophien8 historische Standortbestimmungen.
Historisch Arbeiten hingegen meint mehr und zugleich weniger. Es beschränkt sich nicht auf die Geschichtswissenschaften, sondern lässt sich in allen Disziplinen anwenden. Ein Biologe, der die Entstehung der Arten erforscht, arbeitet im weitesten Sinne historisch, ebenso ein Ökonom, der frühere Wirtschaftskrisen untersucht. Beide möchten Phänomene der Vergangenheit erklären, ebenso wie ein Historiker – idealiter „sine ira et studio“, „ohne Zorn und Parteieifer“,9 wie es der römische Geschichtsschreiber Tacitus formuliert hat. Dieser Rat soll vor einer großen Versuchung bewahren. Sie ist menschlich. Man darf ihr zwar nachgeben, muss es bisweilen womöglich gar: Es ist die Versuchung eines Richteramtes, das Gestalten oder Geschehnisse aus der Vergangenheit für gut oder schlecht, für fortschrittlich oder rückschrittlich befinden zu müssen meint. Jede Gegenwart urteilt über die Vergangenheit und vor allem über deren angebliche Moral oder Unmoral. Aber daraus kann kein wissenschaftlicher Beruf entstehen; Wissenschaft ist kein Weltgericht. Darauf haben die Pioniere der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung bestanden, die Gelehrten des Historismus im 19. Jahrhundert.10 Schauprozesse über die Vergangenheit sind das Gegenteil des Historisch Arbeitens, das verstehen statt verurteilen will.
Ähnliche Vorbehalte gelten für respektive wider Patentrezepte, die sich vermeintlich aus der Vergangenheit für die Gegenwart gewinnen ließen. Derlei gehört gewiss ebenso unvermeidlich zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte, gewiss aber ebensowenig zur wissenschaftlichen: Der Historiker ist eher „rückwärts gekehrter Prophet“11 als qualifizierter Glaskugelleser für die Zukunft. Wer Gedanken aus den Quellen als angemessen oder gar objektiv richtig beziehungsweise falsch bewerten möchte, arbeitet desgleichen nicht mehr historisch. Moralische, religiöse, ideologische oder psychologische Programmaussagen haben hier keinen Platz. Die Antike für besser oder kultivierter zu halten als das angeblich so dunkle Mittelalter, ist eher ein Urteil des Geschmacks als der wissenschaftlichen Präzision. Historisch Arbeiten heißt Beschreiben, nicht Bewerten.
Daraus folgt nicht, dass man jeder Quelle beizupflichten hätte oder gar gut respektive richtig finden müsste, was sie behauptet – ganz im Gegenteil: Manche Historiker arbeiten an entsetzlichen Quellen. Holocaust-Historiker beispielsweise nutzen die abstoßende Kraft ihrer Quellen, andere hingegen die anziehende. Aus dieser Reibungsenergie gewinnen sie Verständnis dafür, warum es so gekommen ist, wie es gekommen ist. Wer wirklich historisch arbeitet, muss sich seine Helden und seine Ideale vom Leibe halten. Historiker machen sich nicht einmal mit der besten Sache gemein.
Das ist auch der Sinn eines vielfach und vielfach falsch zitierten Mottos, das einer der wirkungsmächtigsten deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts ausgegeben hat, Leopold von Ranke: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beygemessen: so hoher Aemter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen“.12 Das schließt ein, Aussagen der Zeitgenossen nicht für bare Münze zu nehmen. Vielmehr gilt es, sie zu durchschauen und unausgesprochene Absichten oder Annahmen zwischen den Zeilen zu entdecken. Am Ende kommt es darauf an, die Zeitgenossen zu verstehen: eigentlich sogar besser, als sie selbst ihr eigenes Handeln verstanden hätten.13
In diesem Sinne heißt Historisch Arbeiten also: Geschehnisse, Entwicklungen, Strukturen, Personen et cetera aus der Vergangenheit nachvollziehen und verstehen zu wollen. Das bedeutet vor allem, sich auf die zeitgenössische Sicht der Dinge einzulassen, statt posthume Besserwisserei zu betreiben; es beinhaltet auch, das nachträgliche Wissen um die spätere Entwicklung hintanzustellen – und alles aus seiner Vor- statt Nachgeschichte zu erklären. Historisch arbeitet, wer zu fragen versucht, wie es hat kommen können, nicht aber, wer zu beweisen strebt, wie es habe kommen müssen.
Zahlen, Daten, Fakten sind dabei höchst relevant – als Voraussetzung jeglicher Erkenntnis. Historisch Arbeiten erfordert unbedingt die Kenntnis der handelnden Personen, der Chronologie der Ereignisse, der Geographie und vieler Aspekte mehr. Aber intellektuelle Ordnung entsteht nicht durch bloße Aneinanderreihung von Phänomenen, sondern letztlich durch die Suche nach kausalen Zusammenhängen. Abzuwägen, wo sich tatsächlich Ursache und Wirkung aufeinander beziehen lassen und wo eher nicht, gehört zu den anspruchsvollsten Anforderungen an den Historiker. Das Wissen darum, was geschehen ist, ist erst die notwendige Bedingung für das Ringen um Erklärungen, wie und warum es wahrscheinlich geschehen ist.
Kurzum
Historiker sammeln keine Fakten. Historiker machen Fakten: indem sie entscheiden, welche vergangenen Ereignisse und Entwicklungen ihre Aufmerksamkeit verdienen – und welcher weiteren Ereignisse und Entwicklungen es wiederum bedarf, um sie zu erklären. Historiker müssen begründen, welche ausgewählten Phänomene der Vergangenheit sie für darstellenswert halten und welche nicht. Historisch Arbeiten zwingt zum Weglassen!
Zum Aufbau des Buches: Ein Wegweiser
Dieses Buch folgt idealtypisch den drei großen Schritten auf dem Weg zu einer guten schriftlichen Arbeit oder zu einem gelungenen Vortrag – den gängigsten Darstellungsformen für Erkenntnisse, die aus Historisch Arbeiten entstehen. In der Realität finden diese Schritte nicht nacheinander, sondern nebeneinander statt: nur eben mit unterschiedlichen Schrittweiten in den unterschiedlichen Etappen. Am Anfang des Weges steht meist „Suchen und Finden“, darauf folgt „Lesen und Denken“, am Ende steht „Reden und Schreiben“.
Kurzum
Wissenschaft ist ein Prozess, der niemals abgeschlossen ist. Er endet immer nur vorläufig – als großer Dialog mit allen, die schon einmal zum Thema gearbeitet haben.
Dass der Weg zur Hausarbeit im Folgenden besonders anschaulich