Naturphilosophie. Группа авторов

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der Natur. Auch wenn angesichts der aktuellen Naturalismus-Diskussion die Verwendung des Naturalisierungsbegriffs an dieser Stelle diachron erscheinen mag, so legen differenzierte Analysen eine von empiristischen Bestrebungen wohl zu unterscheidende Naturalisierungstendenz im 19. Jh. nahe (vgl. Heidelberger 2015).

      4. Der Ignorabimus-Streit

      Im August 1872 hält der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond (1818–1896) auf der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte eine Rede über die Grenzen des Naturerkennens, die in ihrer nachhaltigen Wirkung als ein Kulminationspunkt in der Auseinandersetzung um den Deutungshorizont der Naturwissenschaften verstanden werden kann. Dem Naturerkennen spricht Du Bois-Reymond zwei inhärente, |71|unüberwindbare Erkenntnisgrenzen zu. Dabei versteht er Naturerkennen als naturwissenschaftliches Erkennen auf Basis der klassischen Mechanik. Seine Kritik gilt dem mit diesem Naturerkennen verbundenen Anspruch auf eine generelle Berechenbarkeit der Welt, die im Laplace’schen Dämon ihren wohl bekanntesten Ausdruck erhält. Das „Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Centralkräfte bewirkt werden, oder Auflösung der Naturvorgänge in Mechanik der Atome“ (Du Bois-Reymond 1872: 2) könne niemals in vollständiger Abgeschlossenheit erfolgen. Die „Weltformel“ (ebd.: 4) setze voraus, dass jegliche Qualität aus „Anordnung und Bewegung“ eines „eigenschaftslosen Substrates“ (ebd.: 5) erklärt werden könne. In Bezug auf Kraft und Materie sowie die Entstehung des Bewusstseins könne das von keinem naturwissenschaftlichen Erkennen geleistet werden. Wir wissen es nicht und wir werden es nie wissen, lautet Du Bois-Reymonds Resümee: „In Bezug auf die Räthsel der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein ‚Ignoramus‘ auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn, trägt ihn dabei das stille Bewusstsein, dass, wo er jetzt nicht weiss, er wenigstens unter Umständen wissen könnte, und dereinst vielleicht wissen wird. In Bezug auf das Räthsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muss er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschliessen: ‚Ignorabimus!‘ “ (ebd.: 33).

      Mit dem Bild der Naturwissenschaft als „die Weltbesiegerin unserer Tage“ (ebd.: 1) lässt sich Du Bois-Reymonds Ignorabimus schwerlich vereinen. Die Rezeption ist ebenso furios wie in ihren Einschätzungen divers. Gilt manchen das Ignorabimus als Rückzugsgefecht der Naturwissenschaftler, die sich auf die prinzipiellen Grenzen ihres Deutungshorizontes besinnen, gilt es anderen als Verrat an der Sache der Naturwissenschaften. Wilhelm Ostwald (1853–1932) hält Du Bois-Reymonds Schluss auf das Ignorabimus für so lange unbesiegbar, wie an der atomistisch materialistischen Grundannahme festgehalten werde. Fällt aber die Grundlage der mechanistischen Weltanschauung, „so fällt mit ihr auch das ignorabimus, und die Wissenschaft hat wieder freie Bahn“ (Ostwald 1895: 19f.). Du Bois-Reymond ist selbst überrascht von der Reaktion, scheint ihm seine Aussage der natürlichen Grenzen nichts Neues, sondern eine geradezu „triviale Wahrheit“ (Du Bois-Reymond 1881: 1045) zu sein. Dabei geht es ihm keinesfalls um eine Bescheidung der Naturwissenschaften zugunsten von Philosophie und Theologie, sondern vielmehr um die prinzipielle Trennung der Gegenstände einer möglichen Naturerkenntnis von den Gegenständen einer möglichen, aber sinnlosen metaphysischen Spekulation. Mit der Bestimmung und v.a. Anerkennung der Grenzen des Naturerkennens sollen die Naturwissenschaften endgültig von (noch) vorhandenen Resten naturphilosophischer Ambitionen befreit werden. Der Streit um das ‚Ignorabimus‘ sei im Kern eine Auseinandersetzung um das Verhältnis von Naturwissenschaften und Naturphilosophie, das einer Auflösung harre. Das ‚Ignorabimus‘ sei „förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth[14]“ (ebd.: 1046) geworden.

      |72|Literatur

      Bayertz, Kurt/Gerhard, Myriam/Jaeschke, Walter (Hg.) 2007a/b/c: Weltanschauung, Philosophie und Naturwissenschaft im 19. Jahrhundert. Bd. 1: Der Materialismus-Streit; Bd. 2: Der Darwinismus-Streit; Bd. 3: Der Ignorabimus-Streit. Hamburg.

      – (Hg.) 2012a/b/c: Der Materialismus-Streit [Originaltexte]/ Der Darwinismus-Streit [Originaltexte]/ Der Ignorabimus-Streit [Originaltexte]. Hamburg.

      Darwin, Charles 1860: Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Stuttgart.

      – [1870] 2010: [Letter] To Armand de Quatrefages. 28 May 1870. In: Burkhardt, F. (Hg.): The Correspondence of Charles Darwin, Bd. 18. Cambridge: 141–142.

      Du Bois-Reymond, Emil 1872: Über die Grenzen des Naturerkennens. Leipzig.

      – 1881: 8. Juli 1880. Öffentliche Sitzung zur Feier des Leibnizischen Jahrestages. Festrede von E. Du Bois-Reymond [später veröffentlicht unter dem Titel „Die sieben Welträthsel“]. In: Monatsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: 1045–1072.

      Feuerbach, Ludwig 1866: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vom Standpunkte der Anthropologie. Leipzig.

      Frohschammer, Jacob 1855: Menschenseele und Psychologie. Eine Streitschrift gegen Professor Carl Vogt in Genf. München.

      Haeckel, Ernst [1868] 41873: Natürliche Schöpfungsgeschichte, Bd. 1. Berlin.

      – [1868] 1878: Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s. In: ders. (Hg.): Gesammelte populäre Vorträge aus dem Gebiete der Entwickelungslehre, Bd. 1. Bonn: 1–28.

      Hartmann, Eduard v. 1875: Wahrheit und Irrthum im Darwinismus. Eine kritische Darstellung der organischen Entwickelungstheorie. Berlin.

      Heidelberger, Michael 2015: Die Naturalisierung des Transzendentalen in der Sinnesphysiologie von Hermann von Helmholtz. In: Scientia Poetica 19: 205–234.

      Henle, Jacob 1876: Anthropologische Vorträge. Erstes Heft. Glauben und Materialismus. Braunschweig.

      Lotze, Hermann 1852: Medicinische Psychologie oder Physiologie der Seele. Leipzig.

      Mayr, Ernst [1982] 2003: The Growth of Biological Thought. Diversity, Evolution, and Inheritance. Cambridge/MA.

      Moleschott, Jakob 1850: Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk. Erlangen.

      Ostwald, Wilhelm 1895: Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus. Leipzig.

      Schleiden, Matthias J. 1863: Ueber den Materialismus der neueren deutschen Naturwissenschaft, sein Wesen und seine Geschichte. Zur Verständigung für die Gebildeten. Leipzig.

      Vogt, Carl 1847: Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände. Zwölfter Brief. Nervenkraft und Seelenthätigkeit. Stuttgart.

      Wagner, Rudolph 1854: Menschenschöpfung und Seelensubstanz. Göttingen.

      Zittel, Karl 1871: Der Darwinismus und die Religion. In: Jahrbuch des Deutschen Protestanten-Vereins 2: 147–161.

       [Zum Inhalt]

      |73|I.8 Gegenwärtige Strömungen der Naturphilosophie

      Gregor Schiemann

      Obwohl die Naturphilosophie gegenwärtig eine eher randständige Position in der Philosophie einnimmt, umfasst sie zahlreiche Strömungen, die teilweise von recht unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Diese Vielfalt geht zum einen auf den nur vage bestimmbaren Begriff zurück, der sich seit jeher auf sich widersprechende Auffassungen von den Methoden und Aufgaben der Naturphilosophie anwenden ließ. Zum anderen ist die heutige Heterogenität des Faches auch Ausdruck einer Umbruchsituation, in der sich das Wissen von der Natur und das Verhältnis des Menschen zur Natur in einem radikalen Wandlungsprozess befinden (→ insb. II.1).

      Das hervorstechendste neue Merkmal des Naturwissens ist der wachsende Einfluss des szientistischen Naturalismus, wie er z.T. von den Naturwissenschaften selbst vertreten wird. Ihm zufolge lassen sich alle Phänomene der Welt mit den Mitteln der Naturwissenschaften erfassen und im Prinzip auch erklären (zur Vorgeschichte → I.7/Abschn. 2). In der Konsequenz dieses Ansatzes, der in der Naturphilosophie ebenso leidenschaftliche Anhänger


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