Naturphilosophie. Группа авторов

Naturphilosophie - Группа авторов


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wirksam. Und wenn in der gegenwärtigen Geologie, Biologie und Anthropologie auf eine ‚Naturgeschichte‘ verwiesen wird, so schließt dies langetablierte philosophische Debatten um das Verhältnis von Natur und Geschichte ein. Dabei wurde Natur auch als Schöpfung verstanden – ein Verständnis, das etwa in aktuellen Bemühungen um den Schutz der Biodiversität wieder aufscheint. Überdies leitete und leitet die naturphilosophische Frage nach der Mathematisierung der Natur und ihren Grenzen nicht nur die Philosophie selbst an, sondern auch die Mathematik, die Naturwissenschaften, die Ökonomie, die Mechanik und sogar die junge Informatik.

      Die Geschichte der Naturphilosophie ist stets auch ein Versuch ihrer systematischen Bestimmung und Verortung gewesen. Diese Verschränkung von Geschichte und Systematik der Naturphilosophie soll in Sektion I dieses Lehrbuchs deutlich werden. Um einen adäquaten Einstieg in die Naturphilosophie zu bieten, wird im Folgenden eine Auswahl historisch bedingter Konstellationen naturphilosophischen Denkens dargestellt, die von der Antike bis in die Gegenwart führt. Ziel ist es, Einblicke in naturphilosophisches Denken zu bieten, die einen systematischen Aufriss der Naturphilosophie im Kontext ihrer eigenen Geschichte aufzeigen. Dabei treten Machtverhältnisse in und zwischen Disziplinen und Denkrichtungen zu Tage: Es gab einflussreiche Streitigkeiten in der Naturphilosophie, die ausgefochten wurden, wie im 19. Jh. der Materialismus-, der Darwinismus- und der Ignorabimus-Streit. In dasselbe Jahrhundert fällt auch der Beginn des ‚Kampfes‘ um die Naturphilosophie an sich – und es beginnt ihre teilweise Ablösung durch die Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften, die sich im 20. Jh. gleichsam manifestiert. In diesem Zeitraum der langen Geschichte der Naturphilosophie spitzt sich die systematische Frage nach ihrem Aufgabenfeld zu: Inwieweit ist ‚Natur‘ noch Gegenstandsbereich der Naturphilosophie? Für die Klärung welcher Fragen kann die Naturphilosophie exklusiv zuständig sein? Parallel wandelt |4|sich die bisherige Naturphilosophie und erscheint in anderem Gewand. Gegenwärtige Strömungen der Naturphilosophie – die nicht alle unbedingt unter dem Namen ‚Naturphilosophie‘ figurieren – beziehen sich auf maßgebliche Konstellationen des philosophischen Nachdenkens über ‚Natur‘ nicht nur der Gegenwart, sondern auch der Historie. Dabei erzeugt der Blick zurück sowohl eine Identität der Naturphilosophie wie er auch Einblicke in ihre Vielfalt und Vielstimmigkeit freigibt. Entsprechend zeigt der letzte Beitrag dieser Lehrbuchsektion systematische Grenzen und Konturen der Naturphilosophie auf: als Disziplin der Philosophie und im möglichen Wechselspiel mit den Naturwissenschaften, aber auch in Abgrenzung zu diesen.

      Die zweifellos existierende Pluralität der naturphilosophischen Konzeptionen ist keineswegs ein Beleg für die Beliebigkeit von Naturphilosophie, sondern vielmehr Indiz für deren Umbrüche, Verdichtungen und Verflüssigungen – und diese Flexibilität ist eine wesentliche Stärke der Naturphilosophie. Um entsprechende Alternativen im Denken und Vorstellen geht es auch in der Darstellung von Konstellationen, die die Geschichte als einen dynamischen, auf die Lösung von jeweils gegenwärtigen Problemen ausgerichteten Prozess begreift; sei es als Geistes-, Ideen-, Wissens- oder Objektgeschichte. Einige Konstellationen erscheinen uns heute aus bestimmten Gründen wichtiger und prägender zu sein als andere: z.B. die Vorstellung einer Naturgeschichte als Entwicklungsgeschichte bzw. Evolution, etwa im Vergleich zu einer Lebenskraft, die alle Natureinheiten durchdringt. Die Wahrnehmung der jeweiligen Wichtigkeit ist aber selbst dem historischen Prozess unterworfen. Von daher gibt es naturphilosophische Positionen der Vergangenheit, die heute eher ein Schattendasein führen, aber vor anderen Problemhorizonten wieder ins Licht treten könnten – gerade auch jenseits der Philosophie.

      Mit dieser einführenden Sektion kann weder eine vollständige noch eine repräsentative Geschichte naturphilosophischen Denkens und auch keine erschöpfende systematische Bestimmung der Naturphilosophie geleistet werden. Ziel ist es vielmehr, zentrale Begriffe, Kategorien und Topoi in ihren Relationen zu ‚Natur‘ vorzustellen und mit den zugehörigen Denkerinnen und Denkern in ihren Epochen zu verbinden. Dabei wird die historisch-systematische Perspektive für die nachfolgenden Sektionen „Grundbegriffe der Naturphilosophie“ (Sektion II), „Naturverhältnisse“ (Sektion III) und „Naturphilosophie in der Praxis“ (Sektion IV) aufgespannt. Die Möglichkeiten und Grenzen heutiger Naturphilosophie lassen sich nicht losgelöst von früheren naturphilosophischen Reflexionen betrachten; so die Ansicht der Herausgeberinnen und Herausgeber dieses Lehrbuchs. Das bedeutet nicht, dass jeder naturphilosophischen Überlegung eine erschöpfende Analyse der Geschichte der Naturphilosophie vorherzugehen habe. Doch die Frage, welche Konzeptionen und Methoden uns als sinnvoll gelten und welche nicht – welchen Sinn und Zweck ‚Natur‘ erfüllt, erfüllen soll und erfüllen kann – ist nur in Ansehung der historischen Entwicklung der Naturphilosophie adäquat zu beantworten.

       [Zum Inhalt]

      |5|I.1.A Kosmos und Universum:

      Chaos, Logos, Kosmos

      Nicole C. Karafyllis und Stefan Lobenhofer

      1. Chaos und Mythos[1]

      Der griechische Philosoph Epikur (341–271 v. Chr.) habe sich einst der Philosophie zugewandt, weil ihm sein Lehrer den Ausdruck „Chaos“ bei Hesiod nicht erklären konnte (DL X, 2). Mit dieser Anekdote bringt der Philosophiehistoriker Diogenes Laertius (3. Jh.) im Buch Leben und Meinungen berühmter Philosophen ein gängiges Motiv in die Anschauung: Philosophieren beginnt mit dem Staunen über die Welt (vgl. Aristoteles, Metaphysik I 982b11f.). Begleitet wird das Staunen von der Unzufriedenheit mit bestehenden Deutungsversuchen, von der Suche nach vernünftigen Erklärungen. In der Person Epikurs verbindet Diogenes das Thema des Anfangs der Welt im Chaos mit dem Anfang der Philosophie. Dies geschieht auch bildlich, denn das Staunen begegnet uns mit offenem Mund – und das griechische Wort „Chaos“ meint wörtlich einen klaffenden Schlund oder Abgrund. Beim Aussprechen sagt man wie beim Staunen ein langgezogenes „A“ und „O“, was die Bedeutung lautmalerisch unterstreicht und an Anfang und Ende des griechischen Alphabets erinnert. Aber was am Chaos machte Epikur unzufrieden?

      Eine Antwort ist: seine Unermesslichkeit und damit die Schwierigkeit, das Chaos vernünftig zur Sprache zu bringen – und somit zum Logos. Denn das Chaos meint, modern ausgedrückt, die Grenze der Dimension. Über sie wird in Hesiods Mythos jedoch nichts gesagt. Der Dichter Hesiod (ca. 700 v. Chr.) hatte einst die Theogonie geschrieben, ein Epos über die Entstehung der Götterwelt, in der das Chaos den Urzustand des Kosmos darstellt. Hesiod lässt die Musen über den Anfang der Weltentstehung (Kosmogonie) singen:

      „Wahrlich, als das Allererste [prṓtista[2]] entstand Chaos und danach

      Gaia mit ihrer breiten Brust, ein immer sicherer Sitz für alle Gottheiten,

      die den Gipfel des schneebedeckten Olymp bewohnen,

      und die finsteren Abgründe in der Tiefe der breitstraßigen Erde,

      Und Eros, der Schönste unter den unsterblichen Göttern,

      Der Gliederlöser, der bei allen Göttern und Menschen,

      Bezwingt den denkenden Sinn [nóon] und den verständigen Willen in ihrer Brust.

      |6|Aus Chaos entstanden Erebos und schwarze Nacht [Nýx]

      Aus der Nacht dann wieder Äther und Tag [Heméra],

      Die sie [= Nýx] gebar schwanger vom Erebos, mit dem sie sich in Liebe verband.

      Gaia aber brachte zuerst hervor den mit ihr gleich weiten

      Uranos, den gestirnten, dass er sie überall einhülle,

      Damit er sei den seligen Göttern ein sicherer Sitz für immer.“[3]

      Aus dem Chaos entstehen per Spontangeneration die ersten Gottheiten als Ordnungsinstanzen der Natur: Erde (Gaia → III.9), Liebe (Eros), Nyx (schwarze Nacht) sowie Erebos (unterweltliche Finsternis) und Tartaros, das äußerste Ende der Unterwelt.

      Epikurs Unzufriedenheit ist verständlich: Ist das Chaos das „Nichts“? Ist es „etwas“? Wie kann aus dem Nichts überhaupt die Welt bzw. der Kosmos entstehen?


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