Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« (Smith 1846: 26)

4.Eine bessere Gesellschaft

      Im 19. Jahrhundert wird Gesellschaft als eine fragliche Angelegenheit entdeckt. Gesellschaftslehren, die Fragen der Herrschaft, der Polizei und der Selbstregulation ins Zentrum setzen, orientieren sich an der Idee einer stabilen Sozialordnung. Was aber, wenn die Idee Platz greift, dass die Gesellschaft von Grund auf neu organisiert werden muss oder dass es eine geschichtliche Progression hin zu einer neuen Gesellschaft gibt, auf die vertraut werden kann oder die zu beschleunigen ist?

      Der Traum von einer besseren Gesellschaft findet sich schon in den Idealgesellschaften und Idealstaaten, die Autoren seit der Antike entworfen haben. Das beginnt in Griechenland bei Plato und durchzieht fortan das abendländische Denken. Thomas Morus verdanken wir den Terminus Utopie. Die Autoren von Utopien verfahren konstruktivistisch. Entworfen werden andere Lebensformen, die das überbieten, was die bestehende Gesellschaftsform bietet. Der utopische Konstruktivist spielt das, was ihm wichtig ist, gedanklich durch: Wie wird die Ernährung aussehen, wie der Häuserbau, wie die Zeitregelung, wie die Erziehung, wie die Müllabfuhr und so weiter? Alles muss passen, so dass sich jeder vorstellen kann, dass es besser sei, in dieser Art zu leben, als im jeweiligen Jetzt-Zustand.

      Die bessere Gesellschaft muss aber nicht auf eine utopische Insel verlegt werden, sie kann auch als eine besondere Phase im Leben von Völkern geschichtlich situiert werden, als ein goldenes Zeitalter, als Blüte einer Kultur oder als zu erwartender Höhepunkt. So hat Ibn Khaldūn (1332–1406) aus der Erfahrung der Konfrontation von Gesellschaften unterschiedlichen Typs im südlichen Mittelmeer ein zyklisches Geschichtsbild gezeichnet. Nomadische Lebensweisen kennen eine starke Solidarität; mit dem Eintritt in differenziertere urbane Lebensweisen wird der Zusammenhalt jedoch schwächer. Es kommt zu Zerfallserscheinungen, die Gesellschaft ist Eroberungen durch einen von außen kommenden Nomadenstamm hilflos ausgeliefert, den [34]freilich über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird (Khaldūn 1992). Je nach der Selbstpositionierung in einem solchen Ablaufschema kann ein Gesellschaftszustand als besser oder schlechter erscheinen.

      Das zyklische Geschichtsbild von Giambattista Vico ist wie viele Denkweisen dieser Art am menschlichen Lebenslauf im Sinne der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes orientiert und zielt auf eine wiederkehrende Struktur der Gesellschaftsgeschichte von Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende, um dann von Neuem seinen Lauf zu nehmen. Vicos Modell ist in der Hauptsache der Geschichte Roms abgelesen. Nach dessen Untergang kehrt die Stufe heroischer Barbarei im Mittelalter wieder, nicht als identische Wiederholung, sondern bereichert durch die vorausgegangene Entwicklung (Croce 1927). Während Vico seine Sympathie für die heroische Zeit der Kindheit der Kulturen voller Fantasie und Poesie nicht verbarg, projiziert der Marquis de Condorcet den Idealzustand der Gesellschaft in die Zukunft, in der das Menschengeschlecht, neun Epochen durchlaufend, auf einen Zustand der Vollkommenheit zueilt. Die Perfektibilität des Menschen verläuft bei ihm in einer linearen Zeit, die bessere Gesellschaft ist die jeweils nächste (Condorcet 2010).

      Mit den Umbrüchen der Französischen Revolution wird die Sehnsucht nach einer ganz neuen Gesellschaft enorm verstärkt. Frankreich entwickelt sich zur Brutstätte von Gesellschaftslehren, deren Leuchtkraft bis heute ausstrahlt. Bei Saint-Simon und seinen Jüngern ist früh schon das Ensemble der postrevolutionären Konstellation präsent, das für das Denken der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bestimmend geworden ist: die Idee der Industriegesellschaft, die Arbeiterfrage, der Feminismus und das Ziel einer Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen, deren oberste Leitung der Wissenschaft zukommt. Einer der Sekretäre Saint-Simons, Auguste Comte (1798–1857), hat dieser neuen Wissenschaft ihren Namen gegeben: »Soziologie«. Die Soziologie ist die Königin des neuen wissenschaftlichen Zeitalters, in dem die Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu organisieren.

      Die Ideen für eine bessere Gesellschaft gehen dann freilich in verschiedene Richtungen. Comte erfindet die Soziologie als Krönung der positivistischen Wissenschaft, die wie eine Kirche organisiert wird, und legt sich vor seinem Tod 1857 den Titel Le Fondateur de la Religion Universelle. Grand-Prètre de l’Humanité zu. Andere Schüler Saint-Simons wie Barthélemy Prosper Enfantin sahen die Befreiung der Frau und die Abschaffung der Ehe als Königinnenweg zu einer besseren Gesellschaft. Schließlich verstärken die Saint-Simonisten den anschwellenden Strom von Gesellschaftslehren, die die soziale Frage, insbesondere das Elend der Arbeiter fokussieren und die bessere Gesellschaft in einem Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus realisieren wollen.

      Verwissenschaftlichung und Fortschritt der Gesellschaft: Die von Comte gestiftete Menschheitsreligion ist der Schluss der Entwicklung des menschlichen Geistes, der in allen Gebieten des menschlichen Wissens drei Phasen durchläuft: die theologische, die metaphysische und die wissenschaftliche. Sein berühmtes Drei-Stadien-Gesetz reflektiert die Korrelation von gesellschaftlicher Organisation und geistigem Zustand. Dem Aberglauben der theologischen Phase, die vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus reicht, korrespondiert die Theokratie als soziale Organisationsform, die militärisch geprägt ist. In der metaphysischen Phase sucht der menschliche Geist nicht mehr nach göttlichen Ursachen für Dinge, die er sich nicht erklären kann, sondern konstruiert Abstrakta – Wesenheiten, denen tatsächliche Kräfte und Qualitäten zugesprochen werden können. In sozialer Hinsicht korrespondiert diese Phase mit der Entwicklung des Rechts sowie mit der Krise des Rechts, die in die Revolution münden wird und die sie [35]auch darstellt. Die Entwicklung des menschlichen Geistes finalisiert sich schließlich im positiven Stadium, in dem Ordnung und Fortschritt miteinander versöhnt sind. In diesem »endgültigen Stadium rationaler Positivität« ist die Einbildungskraft ständig der wissenschaftlichen Beobachtung untergeordnet (Comte 1994: 15).

      Dieser Positivismus hat viele Wissenschaftler beflügelt, insbesondere in Frankreich, dem ersten Land, in dem Soziologie sich als Fach an Universitäten etablieren konnte. Der Prozess ist mit dem Namen Émile Durkheim (1858–1917) verbunden, der wie kaum ein anderer Wert auf die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie gegenüber anderen Fächern gelegt hat.

      Parallele Entwicklungen einer Positionierung der Wissenschaft von der Gesellschaft im Rahmen der Evolution des menschlichen Geistes und seiner sozialen Einrichtungen finden sich auch in England. Einflussreich wurde die synthetische Philosophie Herbert Spencers. Ihr Ziel war es, alles verfügbare Wissen in einer universalen Entwicklungslehre zu integrieren (Spencer 1901). Seine Definition von Entwicklung lautet: Entwicklung führt von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Es handelt sich um ein universales Entwicklungsgesetz, das für Himmelskörper, Organismen und Gesellschaften gleichermaßen gilt und für dessen Nachweis Spencer zehn Bände plant und diese in 35 Jahren auch bis auf die geplante Seitenzahl fertigstellt (ein Vergleich zu Luhmanns Zeitplanung bietet sich an).

      Bemerkenswert ist die Wendung, die er der Formel vom »Kampf ums Dasein«, die er vor Darwin prägte, gab. Dieser Kampf ist kein letztes Prinzip oder Endzweck, sondern ein Mittel, mit dem sich Gesellschaft als ein Aggregat von Individuen entwickelt. Soziale Aggregate, die voneinander abhängig werden, z. B. zwei gleichartige, aber getrennte Siedlungen, werden in der Entwicklung zu einer Einheit mit innerer Differenzierung. Gesellschaftliches Wachstum durch Integration, Desintegration und höhere Integration vollzieht sich entsprechend der evolutiven Bewegung von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Die Theorie funktionaler Differenzierung ist bei Spencer voll ausgebildet.

      Für Spencer ist jede Gesellschaft ein organisiertes Ganzes, an dessen Entwicklung auch diejenigen mitarbeiten, die dagegen sind oder ahnungslos, und das sind die meisten. Wie bei anderen in dieser Zeit auch, kann mit dem Organismusmodell die Erfahrung der ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit entfesselter Marktgesellschaften theoretisiert und eine Perspektive der Erlösung aus den Übeln gegeben werden. Die Fülle sozialer Konflikte und Spannungen, die schwankenden Ungleichheiten der Lebenslagen können als organische Wachstumskrisen interpretiert werden. Dass Teile einer Gesellschaft ungleich werden, dass soziale Bindungen zerreißen, – diese Phänomene der Auflösung von Gemeinschaftlichkeit in entfesselten Marktgesellschaften werden als Signale einer Krise wahrgenommen werden, die jedoch nur eine Etappe auf der evolutiven Stufenleiter


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