Handbuch der Soziologie. Группа авторов
sein: »Wir formulieren keine Klassifikation, weil wir keine haben und weil wir keine haben können; es sind keine Grundlagen dazu vorhanden. Eine biologische Induktion erlaubt es uns zwar, die Existenz einer Geschlechterklassifikation anzunehmen. Es ist jedoch gegenwärtig unmöglich, daraus ein Gesetz abzuleiten. Was Weiblichkeit wirklich ist, könnte erst nach einem oder zwei Jahrhunderten gleichartiger Erziehung und rechtlicher Gleichheit erkannt werden.« (Arni/Honegger 1998: 80)
Der Sozialismus: Zum Pathos des wissenschaftlichen Fortschritts, zum Kampf für die Rechte der Frau gesellten sich die Ideen der vielgestaltigen sozialistischen Bewegungen für eine bessere Gesellschaft. Noch beim Soziologentag 1928 in Zürich musste der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erklären, dass Soziologie und Sozialismus nicht dasselbe seien. Die sprachliche Nähe war und ist verfänglich und wird die Soziologie wohl auch in Zukunft im Guten wie im Bösen mit allen historischen und aktuellen Bestrebungen verbinden, die unter den Überschriften Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus eine bessere Gesellschaft als die bestehende wollen.
Die bessere Gesellschaft erscheint bei manchen Autoren in der Erfahrung der fraglich gewordenen Gegenwartsgesellschaft als eine notwendige Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt. Andere Autoren wollen nicht länger auf die Idealgesellschaft warten. Sie schlagen vor, einfach mit der neuen Ordnung in kleinem Maßstab lokal anzufangen, nach der Devise: »Werden wir aus Staatsbürgern der alten Ordnung zu Genossen einer Neuen Gemeinschaft! Gründen wir Genossenschaften, Landkommunen, Gemeinschaftsprojekte, in denen es gerecht zugeht.« Im 19. Jahrhundert blüht der Genossenschaftssozialismus in seinen vielfältigsten Formen. Wieder andere wollen sich damit nicht bescheiden, sie fordern den revolutionären Sturz der alten Ordnung und den revolutionären Aufbau einer neuen. Im 19. Jahrhundert steigt die Konjunktur eines revolutionär-eliminatorischen Sozialismus. – Schließlich, vor dieser Alternative zurückschreckend, konzentrieren sich andere auf eine rein defensive Position. Im Gewerkschaftssozialismus entstehen Vereine und Verbände, in denen sich die von den gesellschaftlichen Umbrüchen betroffenen Handwerker und Arbeiter zusammenschließen, um ihre Interessen zu verteidigen. Zwischen diesen vier Möglichkeiten changiert die Diskussion im 19. Jahrhundert und weit darüber hinaus, vielleicht sogar in die Gegenwart hinein, in Nischen, in denen sich die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft erhält.
Die Soziologie hat auch einen beachtlichen Teil des Erbes dieser Art, für eine neue Gesellschaft einzutreten, aufgenommen. Am wenigsten von der revolutionär-eliminatorischen Seite, obwohl an die Schriften von Georges Sorel zu erinnern ist, in denen Zusammenhänge von Mythos und Gewalt in revolutionären Bewegungen durchdacht wurden, bevor sie im 20. Jahrhundert eine blutige Spur hinterlassen haben (Sorel 1981).
Wichtiger wurde die genossenschaftliche Seite. Wer lernen möchte, wie attraktiv solidarische Lebensformen sein können, tut gut daran, die Schriften von Charles Fourier (1772–1837) in die Hand zu nehmen (Fourier 2006). Man findet dort Vorschläge für eine neue Gesellschaft, in der zu leben als eine wahre Wonne erscheint. Von Fourier kann man nicht groß genug denken, denn er hat Lösungen für zwei Dauerprobleme menschlicher Gesellschaften gefunden, für die Frustration und die Repression. Die fantastische Kühnheit seiner Vorschläge ist bis heute unübertroffen, insbesondere wenn es um die Frage »Wer macht mit wem was wie lange leidenschaftlich gern zusammen« geht. Man könnte darin die Hauptfrage aller Gesellschaftswissenschaft sehen.
Die gewerkschaftliche Seite kämpft um die Erforschung und Förderung der Kräfte, die für eine grundlegende Änderung der Gesellschaft eintreten oder die gegenüber negativen Entwicklungen [39]ein Gegengewicht bilden wollen. Im 19. Jahrhundert war dies die Arbeiterbewegung, das Proletariat. Die Trias von Soziologie, sozialer Frage und Sozialismus war bis weit in den Anfang dieses Jahrhunderts hinein eine spontane Assoziation, der sich niemand entziehen konnte. Heute ist es nicht mehr so einfach, Bewegungen zu identifizieren und zu gewichten. In unserer Gegenwartsgesellschaft gibt es viele Bewegungen, bei denen nicht ohne Weiteres erkennbar ist, was sie sind: Single-purpose movements, so etwas wie neue soziale Bewegungen oder vielleicht gar keine Bewegungen, sondern seltsame Oberflächenspiele, deren Sinn noch nicht geklärt ist.
Weltgeschichtlich wirksam wurde die Gesellschaftstheorie, die Karl Marx (1818–1883) entwickelt hat. Sein Grundgedanke, dass aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft freie, solidarische und menschenwürdige Formen menschlichen Zusammenlebens hervorgehren könnten, hat viele Intellektuelle und Politiker in ihren Bann gezogen. Es waren drei sehr verschiedene Themen, die Marx gebündelt hat: Erstens geht es ihm um eine Philosophie der Freiheit. Hegel hatte formuliert, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Marx verbindet dies mit dem Terminus Emanzipation. Sie geschieht freilich nicht gleichsam geschichtsautomatisch, sondern muss von den Unterdrückten erkämpft werden. Dazu kommt zweitens eine Theorie des Klassenkampfs, die Marx der französischen Geschichtsschreibung entnommen hat. Die Historiker Augustin Thierry (ebenfalls einer der Sekretäre von Saint-Simon) und François Guizot sahen im Kampf zwischen Adel und Bürgertum den entscheidenden Motor für den Fortschritt der Gesellschaft. Ihnen galt der Klassenkampf als ein fruchtbares Entwicklungsprinzip der europäischen Zivilisation. Schließlich formulierte Marx drittens eine Kritik der Volkwirtschaftslehren, der Nationalökonomie, der political economy. Der Kernpunkt der Kritik lautete: »Die Arbeit kömmt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor.« Die politische Ökonomie muss kritisiert werden, weil sie eine falsche Auffassung von Arbeit hat und dazu muss man sich »über das Niveau der Nationalökonomie erheben« (Marx 1973:477).
Es sind dies drei Themen, die in der damaligen Zeit und lange danach, vielleicht sogar bis heute, voneinander getrennt diskutiert wurden: Was ist Freiheit? Warum Gewalt und Krieg in der Geschichte? Woher kommt Reichtum und Armut der Gesellschaften? Marx’ Intuition war es, diese drei Themen als drei Momente eines Zusammenhangs zusammenzuhalten und sie in den breiten Strom dessen, was man seit 1789 in Europa »Revolution« nannte, einzuspeisen.
Die Verhältnisse zwischen Soziologie und Marxismus sind spannungsreich. Denn Marx war ebenso ein Anti-Soziologe, wie sich die Soziologie als Anti-Marxismus verstanden hat. Verständlich wird diese Spannungslage, wenn man weiß, dass Marx zwei deutsche Anti-Affekte in sein Denken eingelassen hat, die sich gegen die geistigen Traditionen sowohl der Angelsachsen und wie auch der Franzosen richteten, von denen er aber gleichzeitig ungeheuer profitiert hat. Marx hasste einerseits den Bourgeois, jene Gestalt, der er einen französischen Namen gab, hinter der sich jedoch der englische Kapitalist verbarg, der self-made man, berechnend, hartherzig, erfolgreich. Andererseits hasste er die Halbherzigkeit der »nur« politischen Revolution, die die Franzosen 1789 durchgeführt hatten. Marx träumte von einem Deutschland, das besser als alle anderen mit der Zukunft fertig werden würde, darum geißelte er die eklatante Rückständigkeit seiner Landsleute und goss Hohn und Spott über ihre Faulheit und Feigheit, ihre dumme Gutgläubigkeit, ihre gemütliche Provinzialität, ihre unausstehliche Prahlsucht und ihre geistige Verstiegenheit. In Deutschland gab es daher immer auch genügend Gründe für einen Antimarxismus.
Die politischen Ökonomen in der Tradition von Adam Smith hielten daran fest, dass es moralisch besser sei, wenn die Menschen die Dinge, die sie zum Leben brauchen, miteinander [40]austauschen, indem sie nicht für ihre Autarkie, sondern für andere tätig werden und ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Denn die Lust zu kaufen und zu verkaufen, verbände die Menschen viel stetiger und sicherer miteinander als Affekte anderer Art. Für den ordnungsliebenden Marx war es ein unerträglicher Gedanke, dass die so völlig verschiedenen Substanzen der Welt, wie Tulpen, Tapeten, Tonkrüge und Tauben, und Eigenschaften der Individuen, wie Muskelkraft, Sangeskunst, Liebesfähigkeit und Zerstörungslust beliebig, chaotisch füreinander zur Ware werden.
Zum Antikapitalismus hinzu kommt bei Marx die Kritik an der »Nur«-Politik französischer Art, die auf der Spaltung zwischen Bürger und Mensch (Öffentlichkeit und Privatheit) basierte. Dass so lebenswichtige Themen wie Glück, Besitz, Liebe und Religion dem politischen Zugriff grundsätzlich entzogen sein sollten, d. h. als Privatsache galten, war für Marx besonders dort unerträglich, wo von der Privatsache, etwa dem Privatbesitz von Produktionsmitteln, Wohl und Wehe ganzer Landstriche abhing. So sollte Marx zufolge der Stolz der revolutionären Franzosen, die demokratische Republik, in der geschichtlichen Entwicklung durch einen Verein freier Menschen überboten werden, der ganz vaterlandslos und mit absterbenden