Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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h. »nicht nach einer bestimmten Auffassung, sondern nach den ihnen innewohnenden Eigenschaften« (ebd.: 131). Deutlich distanziert sich Durkheim von einer instrumentalistischen Auffassung, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nicht unabhängige Gegenstände referieren, sondern mehr oder weniger nützliche Denkwerkzeuge darstellen. Die Soziologie, so heißt es bei ihm, »benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären« (ebd.: 138).

      Ausgehend von diesen Äußerungen haben verschiedene Interpreten die Schlussfolgerung gezogen, dass Durkheim die Position eines soziologischen Realismus vertritt, gelegentlich wird er stärker noch mit einer abbildrealistischen Auffassung in Verbindung gebracht. Deshalb gilt es darauf hinzuweisen, dass sich bei Durkheim auch abweichende Äußerungen finden lassen, in denen er stärker den konstruktiven Eigenanteil des Erkennens betont; überhaupt gilt zu beachten, dass er sich, was hier allerdings nur angedeutet werden kann, vielfach zustimmend auf die Philosophie von Kant bezieht. Zudem können auch die zuvor referierten Äußerungen Durkheims, jedenfalls zum Teil, mehr oder weniger konstruktivistisch – sprich: instrumentalistisch – reinterpretiert werden. Danach gibt der französische Soziologe, wenn er etwa von der Dinghaftigkeit sozialer Phänomene spricht, keine Auskunft über deren ontologischen Status, sondern formuliert lediglich die methodische Regel, dass sich soziale Tatbestände wie unabhängige Dinge behandeln lassen (was eben nicht besagt, dass sie auch derartige Dinge sind). Diejenigen, die Durkheim dann doch dem realistischen Theorielager zuordnen, können sich freilich auf die Beobachtung stützen, dass er in gewisser Weise Überlegungen vorwegnimmt, die in späteren Debatten von expliziten Befürwortern des Realismus formuliert werden. Zu nennen wäre etwa Roy Bhaskars (1998) Version eines kritischen Realismus, bei der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen unterschieden wird. Sozialwissenschaftliche Theorien, die aktuelle Ereignisse erklären, sind gut beraten, so Bhaskar, neben empirischen Regelmäßigkeiten auch tiefer liegende Mechanismen und Strukturen zu berücksichtigen, die ebenso ›wirklich‹ sind wie die direkt messbaren Erscheinungen an der Oberfläche. In anderen Kontexten ist auch von einem wissenschaftlichen Realismus die Rede: ›Theoretischen Entitäten‹, die zwar nicht unmittelbar beobachtet werden können, deren Existenz jedoch theoretisch erschlossen werden kann, kommt demzufolge ebenso wie direkt wahrnehmbaren Einheiten der Status beobachtungsunabhängiger Dinge zu.

      Der zuvor kurz erwähnte Begriff des kritischen Realismus wird noch in anderen Kontexten verwendet. Gelegentlich zieht man den Begriff auch heran, um die – von Bhaskars Auffassung deutlich abweichende – Realismusposition des kritischen Rationalismus von Karl Popper und Hans Albert zu bezeichnen. Von einer kritischen Variante des Realismus ist deshalb die Rede, weil Popper und Albert zwar die These einer beobachterunabhängigen Außenwelt stark machen, zugleich jedoch auf Distanz zu den Prämissen eines Abbildrealismus gehen: Die Wirklichkeit ist danach aufgrund der Theorie- bzw. Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Aussagen nicht [57]direkt erkennbar; doch mittels entsprechender methodischer Vorkehrungen lässt sich erreichen, dass sich die Wissenschaften einer wahren Darstellung der Außenwelt sukzessive annähern. Diese Wahrheitsapproximation erfolgt dabei, so Popper und Albert, durch eine Eliminierung des Falschen, d. h. durch eine fortlaufende Falsifikation unwahrer Aussagen. Anders als Albert (1987), der den Begriff des kritischen Realismus favorisiert, spricht Popper (1998: 40) von einem metaphysischen Realismus, da die Realismusannahme nicht empirisch prüfbar ist, seines Erachtens jedoch von wissenschaftlichen Theorien vorausgesetzt wird.

      Es würde eine unzulässige Verkürzung darstellen, wenn in diesem Zusammenhang nicht zugleich, wie angedeutet, auf die seit einigen Jahrzehnten zu beobachtende immense Ausweitung konstruktivistischer Ansätze in der Soziologie bzw. in den Sozialwissenschaften aufmerksam gemacht würde. Eine besondere Beachtung namentlich in der deutschsprachigen Soziologie hat dabei die von Niklas Luhmann formulierte Konzeption einer konstruktivistisch ansetzenden Systemtheorie gefunden. Luhmann beschreibt soziale Gebilde (Interaktionen, Organisationen, Gesellschaften) als autopoietische, operativ geschlossene Systeme, die ihre kommunikativen Elemente, aus denen sie bestehen, in einem rekursiven Prozess selbst herstellen. Das damit angedeutete Theorem der operativen Geschlossenheit wird ergänzt durch die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit. Kognition gilt dabei als ein systeminterner Zustand, der mittels Beobachtungen, d. h. Bezeichnungen im Rahmen von Unterscheidungen, produziert bzw. geändert wird. Auch bei Beobachtungen handelt es sich um endogene Operationen, die das System mit eigenen Mitteln bewerkstelligt. Insofern besagt die Annahme einer kognitiven Geschlossenheit, dass es keinen Input von Informationen aus der Umwelt in das System oder einen Output von Informationen aus dem System in die Umwelt des Systems gibt. Informationen stellen in dieser Sicht interne Konstruktionen dar, die soziale Systeme autonom, d. h. im selbstreferenziellen Vor- und Rückgriff auf weitere Informationen erzeugen und verarbeiten. Das Gesagte gilt, so Luhmann, für alle (sozialen) Systeme, gilt also auch für die Wissenschaft als Funktionssystem der modernen Gesellschaft und gilt ebenso für die Soziologie als Subsystem der Wissenschaft. In dieser Sicht stellt sich wissenschaftliches bzw. soziologisches Wissen als ein Wissen dar, dass vom System autonom produziert wird – womit gemeint ist, dass von der Wissenschaft »keine Vorgaben anerkannt werden, die nicht im System selbst erarbeitet sind. Erkenntnisse können daher nur zirkulär begründet werden.« (Luhmann 1990a: 294)

      Luhmanns These einer selbstreferenziellen Konstruktion und damit strikten Selbstproduktion wissenschaftlichen Wissens ist Gegenstand zahlreicher, bis heute andauernder Debatten. Von verschiedenen Seiten ist kritisch dagegen vorgebracht worden, dass die Systemtheorie eine antirealistische Sichtweise vertritt, die keinerlei Einflussnahme der externen Umwelt auf interne Systemprozesse vorsieht. Luhmann selbst hat diesen Antirealismusvorwurf freilich bestritten. »Tatsächlich steht der Realismus des Konstruktivismus auf sicheren Beinen.« (Luhmann 1990b: 9) Zur Erläuterung seiner Auffassung, dass es sich bei dem systemtheoretischen Konstruktivismus um eine Spielart des Realismus handelt, führt er mehrere Überlegungen an; unter anderem verweist er darauf, dass der Theorie zufolge Erkenntnis eine Selbstkonstruktion real operierender Systeme darstellt, ohne dass damit kausale Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt oder gar die Wirklichkeit der Außenwelt bestritten würden. »Das heißt nicht, daß die Realität geleugnet würde, denn sonst gäbe es nichts, was operieren, nichts, was beobachten, und nichts was man mit Unterscheidungen greifen könnte. Bestritten wird nur die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Realität.« (Ebd.: 37) Daneben findet sich eine dritte Lesart. Diese begreift Luhmanns Theorie sozialer Systeme (ebenso wie eine Reihe ähnlich ansetzender Varianten eines sozialtheoretischen Konstruktivismus) als eine theoretische Position, die gewissermaßen quer zu dem Schema von Realismus und Antirealismus steht. In dieser Sicht ist mit Sozialkonst-ruktivismus [58]ein Forschungsprogramm gemeint, das sich dafür interessiert, auf welche Weise Wirklichkeitsbeschreibungen soziale Verbindlichkeit erlangen. Behauptet wird zugleich, dass die (ergebnislose) Auseinandersetzung zwischen Realisten und Antirealisten ein ganz anderes (fundamentalistisches) Anliegen betrifft, nämlich die Frage nach einem letzten Einheitsgrund unseres Erkennens und Wissens. Für das sozialkonstruktivistische Theorieprogramm ist diese Fragestellung jedoch, so die Schlussfolgerung, eine Frage ohne praktischen Wert (Kneer 2009).

      Die Kontroverse über Realismus und Konstruktivismus hat in jüngerer Zeit auf dem Feld der sozialwissenschaftlichen Wissenschaftsforschung bzw. der so genannten science studies eine Fortsetzung und zugleich weitere Zuspitzung gefunden. Einen viel beachteten Ansatz stellt die maßgeblich von Bruno Latour formulierte Akteur-Netzwerk-Theorie dar. Latours Theorieunternehmen geht auf deutliche Distanz sowohl zu den Prämissen des (Abbild-)Realismus als auch des (Sozial-)Konstruktivismus. Im Gegensatz zu einem realistischen Selbstverständnis betont Latour, dass (natur-)wissenschaftliche Tatsachen nicht schlicht entdeckt, sondern fabriziert, produziert und damit konstruiert werden – »les faits sont faits« (Latour 2003: 195). An die Adresse der konstruktivistischen Wissenssoziologie richtet er den Vorwurf, dass diese in kurzschlüssiger Weise (natur-)wissenschaftliches Wissen allein im Rekurs auf die interpretative Tätigkeit der Wissenschaftler, also »die harten Fakten der Naturwissenschaft durch die weichen Fakten der Sozialwissenschaft« (ebd.: 187) erklärt und damit den Eigenanteil der Dinge und Gegenstände am Zustandekommen wissenschaftlicher Tatsachen unterschlägt.11 In seiner Sicht ist der Vorgang der Wirklichkeitskonstruktion ein dynamisches Geschehen, an dem naturale, gesellschaftliche und technische Komponenten gleichermaßen beteiligt


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