Das gefallene Imperium 10: Um jeden Preis. Stefan Burban
Und auch das wurde zunehmend schwieriger. Die Hinrady kamen ihnen mittlerweile bedenklich nahe. Es musste endlich eine klare Vorgabe her. Die Männer und Frauen unter seinem Kommando brauchten ein Ziel und einen Plan. Ansonsten würden viele schon sehr bald einfach aufgeben.
Dr. Isabel Dreshku kam unsicheren Schrittes auf ihn zu. Die Frau war Anfang siebzig. Daher musste man sie schon bewundern, wie gut sie sich in dieser lebensfeindlichen Umgebung hielt. Allerdings hatte sie auch kaum eine andere Wahl. Die Schwachen gingen als Erste zugrunde.
Dreshku war wesentlich kleiner als Sorokin. Die Frau warf ihren schweren Mantel zurück und betrachtete den Commodore von unten. Wäre man über die Dienstgradverhältnisse nicht informiert, man hätte beinahe meinen können, Dreshku hätte hier das Sagen.
Eine Kolonne Überlebender schleppte sich hinter den beiden Offizieren aus den Schneeverwehungen und setzte ihren Weg fort, immer einen Fuß vor den anderen setzend. Wer stürzte, dem wurde umgehend von Kameraden geholfen, die alle weniger am Leib trugen, als gut für sie war.
»Und?«, wollte der Commodore wissen. »Wo stehen wir?«
Dreshku rümpfte die Nase und holte ein immer noch funktionstüchtiges Pad hervor. »Unsere Gruppe ist vergangene Nacht weiter geschrumpft«, gab sie missmutig zurück. »Unsere Gesamtstärke liegt jetzt bei dreihundertundelf Leuten.«
Sorokin schloss die Augen. Dreihundertundelf von fast eintausendzweihundert Männern und Frauen, die ein Trajan-Angriffskreuzer an Besatzungsmitgliedern aufwies. Wenn Dreshkus Zahlen korrekt waren – und daran zweifelte er zu keinem Moment –, dann waren letzte Nacht vierundvierzig Menschen erfroren.
Sorokin bedachte die an ihm vorüberziehende Menschenmenge mit einem verzweifelten Blick. Irgendwie musste er diese Leute am Leben erhalten. Von den etwas mehr als dreihundert Menschen trug nur rund die Hälfte eine Rüstung. Bei den meisten von ihnen handelte es sich um Marines. Der Rest trug lediglich die an Bord übliche Uniform und dann noch Isolierfolien, die als Teil der Notausrüstung an Bord von Rettungskapseln und Fluchtshuttles zu finden waren.
Kurz nach ihrer Ankunft hatten sie damit begonnen, Exemplare der spärlichen hiesigen Fauna zu jagen und zu erlegen. Dabei handelte es sich um eine Art Walross, das unter dem Eis lebte und dadurch der Nahrungssuche der Jackury entgangen war. Sie hatten das Fleisch, das sie nicht an Ort und Stelle vertilgten, eingepackt, für den Fall, dass ihre Notrationen zur Neige gingen. Aus dem Fell hatten sie Mäntel angefertigt für all jene, die über keine Rüstung verfügten. Dennoch verloren sie täglich gute Leute an Kälte, Hunger und Entbehrungen.
Sorokin war zuversichtlich, dass die Todesrate sinken würde. Die Ausrüstung der Toten wurde an die anderen verteilt, damit diese sich besser gegen den beißenden Wind und die allgegenwärtige Kälte schützen konnten. Aber er war Realist genug, um zu wissen, dass sie weitere Männer und Frauen verlieren würden, und das schon sehr bald.
Dreshku trat noch einen Schritt näher und riss ihn dadurch aus seinen Gedanken. »Commander Koroljow macht mir große Sorgen.«
Sorokins Blick glitt in Richtung des XO, der von zwei Mann gestützt werden musste. »Wie geht es ihm?«
»Beschissen«, erfolgte die lapidare Antwort. »Er hat sich zwei Rippen gebrochen. Fieber hat eingesetzt.« Die Ärztin schüttelte langsam den Kopf. »Ich verfüge hier nicht über die Mittel einer ordentlichen Diagnose, aber er hat ganz bestimmt eine Infektion.«
Sorokin erstarrte. »Das bedeutet Blutvergiftung.«
»Und eine sehr ernste noch dazu«, fuhr sie fort. »Die wenigen Antibiotika, die ich dabeihatte, sind längst aufgebraucht. Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, ihn halbwegs schmerzfrei zu halten und ihm hin und wieder etwas zu geben, das ihn auf den Beinen bleiben lässt. Das war’s aber auch.«
Sorokin schüttelte den Kopf. »Koroljow ist ein guter Mann. Er wird durchhalten so lange, wie er kann.«
»Und danach?«
Sorokin runzelte die Stirn. »Danach tragen wir ihn, falls nötig«, gab er zorniger zurück als beabsichtigt. Er räusperte sich. »Wir werden ihn aber auf keinen Fall zurücklassen, wenn Sie darauf hinauswollten.«
Dreshku richtete sich zu voller Größe auf. »Etwas Derartiges würde ich nicht einmal denken«, erwiderte sie. Bevor Sorokin antworten oder sich entschuldigen konnte, drehte sich die Frau um und stapfte davon. »Ich muss mich um meine Patienten kümmern«, erwiderte sie beleidigt.
Sorokin bedauerte seine Worte, sah sich im Moment aber auch nicht in der Lage, sie zurückzunehmen. Er seufzte und hob den Blick. Der Himmel war glasklar und von einem bestechenden Blau. Er achtete darauf, nicht zu lange nach oben zu starren. Dadurch konnte man sein Augenlicht verlieren.
Micky Walsh und Thomas Mack, der taktische Offizier der Sevastopol, gesellten sich Seite an Seite zu ihm. Mack hielt eine aus Ersatzteilen zusammengebastelte Sensoranordnung auf Armlänge von sich.
»Wir haben ein neues Signal aufgefangen«, verkündete er.
Hoffnung keimte in Sorokin auf. Sie folgten von Anfang an den Peilsignalen abgestürzter Evakuierungseinheiten und hatten dadurch einige Leben gerettet und waren darüber hinaus an dringend benötigte Ausrüstung gekommen. Auf das letzte Signal waren sie jedoch vor knapp einer Woche gestoßen. Sorokin hatte schon befürchtet, es würde keine Überlebenden der Sevastopol mehr auf Tau’irin geben.
»Wo und wie weit?«, hakte er nach.
»Nordosten«, antwortete Walsh an Macks Stelle. »Vielleicht zweihundertfünfzig Kilometer.«
Sorokin seufzte. Zweihundertfünfzig. Das war ein ordentlicher Fußmarsch. Nicht alle von ihnen würden das überstehen. Andererseits war im Moment jede Richtung so gut wie die andere. Da konnten sie genauso gut nach Nordosten marschieren. Unter Umständen würde sich das sogar für sie lohnen. Gut möglich dass sie nichts von Wert fanden, aber falls doch, konnte sich ihre Lage nur verbessern.
Er bleckte die Zähne. »Dann treiben wir die Leute besser mal an. Wir haben einen weiten Weg vor uns.« Mit diesen Worten stapfte er zu seinem XO, packte den Mann unter dem Arm und hielt ihn aufrecht, während die Überlebenden der TRS Sevastopol durch die Eiswüste von Tau’irin zogen – immer einen Fuß vor den anderen setzend.
Vizeadmiral Elias Garner befand sich auf dem Aussichtsdeck eines Truppentransporters, der auch als Kommandoschiff konstruiert war. Das Schiff hatte knapp außerhalb der Ruinen von Orel aufgesetzt. Zwei Kohorten der 199. Gefechtslegion und eine der 101. taktischen Legion hatten einen Sicherheitsperimeter rund um den Transporter eingerichtet, den nicht einmal eine Maus hätte durchbrechen können.
Der Admiral starrte verdrossen und mit nicht geringer Verwunderung nach draußen und betrachtete die Vorgänge mit einem Aufwallen persönlicher Genugtuung.
Feuertrupps verschiedener Einheiten führten verblüffend sanft Gruppen von Zivilisten auf die Straßen und geleiteten sie zu an mehreren Punkten eingerichteten Sammelstellen, wo sie medizinisch untersucht und mit Nahrung versorgt wurden. Der Fund erfüllte sie alle gelinde gesagt mit tiefer Verblüffung, aber auch unverhohlener Freude.
Garner drehte sich zu den Männern und Frauen um, die sich hinter ihm versammelt hatten. Zu den anwesenden Personen zählten unter anderem Lieutenant General Ayumi Yoshida von der 199. Gefechtslegion, der Drizilclanführer Taran, einige Legionskommandanten einschließlich Lieutenant Colonel Richter von der Siebten sowie an die dreißig weitere Offiziere von Bodentruppen und Flotte. Sie alle waren Garners Ruf gefolgt, um das weitere Vorgehen zu besprechen.
»Wie viele Überlebende?«, fragte der Admiral fassungslos.
»Bisher über vierzigtausend«, gab Yoshida zur Auskunft. Die Generalin ließ mit keiner Regung erkennen, ob sie Garner wegen dessen Rolle bei ihrer Zähmung durch Präsident Ackland grollte. Und auch wenn, wäre es Garner egal gewesen. Die Offizierin hatte ihren eigenen Verlust an Macht und Einfluss selbst herbeigeführt durch ihre kriminellen Machenschaften während der Kämpfe auf Celeste und ihren Intrigen danach.
»Verteilt über den ganzen Planeten«, fuhr die Generalin fort. »Versteckt in Kellern oder in der Wildnis.