Die Macht des Tunnels. Hans P Vogt

Die Macht des Tunnels - Hans P Vogt


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      Kapitel 1. Geburt und Tod liegen nah beieinander (Dennis und sein Bruder Patrick)

      1.

      Dennis war zweieinhalb. Er lag in seinem Bett, eingehüllt in seine Lieblingsbettdecke mit den bunten Bärenmustern. Mama saß auf dem Bettrand zupfte die Decke zurecht, wie es oft geschah. Dann begann sie unvermittelt zu erzählen, aber diesmal war es keine Gutenachtgeschichte.

      Es passiert etwas neues, etwas wunderbares. Sie bekommt ein Baby. Ihre Stimme wurde ein Quäntchen tiefer. Dennis würde ein Brüderchen bekommen.

      Dennis hatte schon länger bemerkt, dass da etwas im Busch war. Seine Eltern gingen immer nett miteinander um. Jetzt hatten sie noch mehr Aufmerksamkeit und Rücksicht füreinander. Mutter bewegte sich etwas steifer. Das Bücken schien etwas anstrengend. Für einen Zweieinhalbjährigen waren das unscheinbare Veränderungen, die meist unbemerkt bleiben, denn Kinder haben ihre eigene Erlebniswelt. Aber Kinder haben auch feine Tentakeln. Dennis hatte etwas bemerkt. Er hatte es bisher nicht zuordnen können, jetzt wusste er es.

      Dennis wusste mit seinen zweieinhalb Jahren, dass Kinder aus dem Bauch der Frau kommen. In der Nachbarschaft gab es einige Mütter mit Babys. Eine Treppe tiefer stand ein Kinderwagen im Treppenhaus. Für Dennis waren kleinere Kinder nichts ungewöhnliches.

      Mit Babys konnte man nicht spielen. Soviel wusste er.

      Noch schien der Bauch von Mama nicht anders als sonst. Er wartete ab. Es sei ein frohes Ereignis, sagte Mama. Er würde einen neuen Spielkameraden bekommen. Mama nahm seine Hand. „Willst du einmal fühlen, wo das Baby wächst?“

      Als Dennis etwas überrascht und etwas unsicher nickte, führte sie seine Hand zu ihrem Bauch und legte sie leicht darauf.

      Dennis spürte nichts. Aber er machte sich nicht allzu viele Gedanken. Wenn Mama meinte, da sei ein Baby, so würde sich das wahrscheinlich früher oder später bemerkbar machen.

      Spielkameraden hatte er auch jetzt schon. Jeden Morgen ging er in die Kindergruppe am Ende der Straße. Sie war von mehreren Eltern in Eigeninitiative gegründet worden, um ihren Kindern schon vor dem Kindergarten die Geborgenheit und Erfahrung einer Gruppe zu bieten, und um sich selbst zeitlich etwas zu entlasten. Von den Überlegungen der Erwachsenen wusste Dennis nichts, er hätte mit diesem Wissen auch nichts anfangen können.

      In der Gruppe war Allan, mit dem sich Dennis super verstand. Allan war etwa gleich groß wie Dennis. Aber Dennis war blond, Allan war dunkelhaarig. Er wohnte zwei Straßen weiter.

      Da war noch die schelmische Susi, die Dennis gut leiden mochte, und Jochen, mit dem er im Spaß gerne raufte, so dass „die Fetzen flogen“. Aber da waren auch Beate, Georg, Edgar, Carola und Bernd.

      Sandburgenbauen, Matschorgien, Roller fahren, Skooter fahren und Kissenschlachten gehörten zu den Lieblingsspielen aller Kinder in der Gruppe.

      Noch ein Spielkamerad für Dennis würde in Zukunft auch zu Hause auf ihn warten, meinte Mama. Er würde Patrick heißen.

      Warum Mama meinte, dass Dennis einen Bruder bekommt, war für Dennis ein Rätsel. Woher wusste sie, dass es kein Mädchen wird? Lange nachdem Mama das Licht ausgemacht hatte, dachte Dennis darüber nach. Er fand keine plausible Lösung. Er beschloss mit Allan und Susi darüber zu reden.

      Dennis wartete zwei Tage, bevor er die Neuigkeit in der Kindergruppe verbreitete. Er lag mit Allan in den Polstern auf der Eckcouch, als er anfing zu erzählen. Allan war, was diese Sache betraf, auch nicht schlauer als Dennis. Immerhin meinte er, das die Erwachsenen so etwas miteinander machten, um Babys zu bekommen, und dabei machte er so eine Bewegung mit seiner linken Faust und dem rechten Zeigefinger. Er kicherte. Susi kam gerade ins Zimmer. „Was macht ihr da?“. Allan grinste. „Nichts“. Aber Susi war stur.

      Wenn sie etwas wissen wollte, dann erfuhr sie das meistens auch. „Ich hab’s geseh’n… also was ist?“ Sie warf sich in die Kissen und legte ihren Kopf vertraulich an die Schulter von Dennis. „Also… was ist“, wiederholte sie scherzhaft drohend ihre Frage. Susi war sehr überzeugend und sehr beharrlich, wie immer.

      Es hätte dieser „Drohung“ nicht bedurft.

      Dennis erzählte seine Geschichte noch einmal. Er hatte nichts zu verbergen. Susi sollte informiert werden. Aber Susi wusste auch nicht, woher Dennis Mutter das wissen konnte, dass Dennis einen Bruder bekommt und nicht eine Schwester.

      Susi war nicht auf den Mund gefallen. So wusste innerhalb der nächsten halben Stunde die ganze Kindergruppe, dass die Mutter von Dennis schwanger war.

      Und nun musste Ruth - die Kindergärtnerin - erzählen, dass die Ärzte und Krankenhäuser Apparate haben, mit denen man in den Bauch der Frau sehen kann. Auch wenn die Babys noch so klein sind - und jetzt machte auch sie eine Handbewegung um die Größe anzuzeigen - kann der Arzt sehen, ob das ein Junge oder ein Mädchen wird. Die Kinder schauten wissend.

      Sie waren erst zweieinhalb, aber sie kannten natürlich den Unterschied zwischen Junge und Mädchen. Und der lag nicht darin, dass manche Mädchen Schleifen im Haar trugen.

      2.

      Dennis lebte mit seinen Eltern in einer Vierzimmerwohnung. Es war ein Wohnblock mitten im Westteil von Berlin. Nichts besonderes. Es gab Grünflächen und einen Spielplatz zwischen den Blocks.

      Mama fuhr drei mal die Woche mit der U-Bahn zur Arbeit in ein Büro. Mittags holte Sie Dennis aus der Kindergruppe ab. Den Nachmittag verbrachten sie meist zusammen. Sie gingen zum einkaufen in den Supermarkt, zum Bäcker oder zum Obsthändler. Dennis hatte einen Rucksack mit einem kuscheligen Löwenkopf mit „echten“ Haaren, und durfte darin einen Teil der Einkäufe nach Hause tragen. Manchmal waren das die Brötchen. Manchmal war das eine Tüte Bonbons. Es gab Nachmittage, da gingen sie zusammen in den Zoo.

      Ziemlich oft war Dennis auch bei Allan, Susi oder einem der anderen Kinder der Gruppe.

      An seinen letzten Geburtstag konnte sich Dennis gut erinnern.

      Er hatte ein Laufrad bekommen, und tat sein bestes, um wie ein Wilder über die Wiese vor dem Haus zu brausen. Wenn er bremste, dann flogen die Grasbüschel und die Erde durch die Luft. Manchmal gab es richtige tiefe Bremsspuren. Die wilden Fahrten wurden auch mit iiihh und arhghhhh und verschiedenen Brems- und Hochgeschwindigkeitsgeräuschen begleitet. Oft kamen Allan, Susi und Jochen nachmittags zum Spielplatz. Dennis war glücklich.

      Meist waren an den Nachmittagen noch ein oder zwei Mütter dabei. Sie saßen bei schönem Wetter auf der Bank und unterhielten sich. Susi hatte eine große Schwester, die manchmal als Aufpasser mitkam. Sie fand das doof, und die drei fanden immer eine Lösung, um Marie zu entwischen, sie links liegen zu lassen, oder ihr manchmal einen Streich zu spielen. Mit zweieinhalb können Kinder ziemlich gemein sein.

      Mamas Bauch wurde langsam dicker und dicker. Dennis sah jetzt, dass da im Bauch wirklich etwas wuchs. Wenn Mama manchmal seine Hand nahm und auf den Bauch legte, spürte er, dass sich dort etwas bewegte. Es war ein seltsames Gefühl. Er mochte es. Seine Hand wurde dabei seltsam warm, und er hatte das Gefühl, dass sein Bruder durch die geschlossene Bauchdecke den Kontakt zu ihm suchte. Seine Mutter lächelte, als er ihr davon erzählte. Sie nahm das als gutes Zeichen.

      Papa kam immer erst abends nach Hause. Er arbeitete als Streckeninspektor bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Dennis wusste nicht, was genau Papa da macht. Einmal hatte Papa versucht, Dennis zu erklären, dass er die Sicherheit der Strecken überprüft, aber Dennis war noch zu klein dafür. Er verstand immerhin, dass sein Vater ein wichtiger Mann war.

      Vater war Teil eines Teams. Manchmal erzählte er von seinen Kollegen. Man traf sich an manchen Wochenenden zum Grillen oder zum schwimmen. Einer der Arbeitskollegen hatte einen Kleingarten. Dennis durfte hier im letzten Sommer seine erste Möhre aus dem weichen Boden zupfen. Er war damals erst anderthalb. Aber das schöne Gefühl an die dunkle weiche Erde, der


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