Die Macht des Tunnels. Hans P Vogt
bevor sich die Gruppe um das offene Grab versammelte, war ein Reporter der Berliner Tageszeitung erschienen, und begann Fotos von den Trauergästen zu schießen. Zeitungen pflegen Kontakt zu den Behörden. Eine kurze Nachricht über die staatsanwaltlichen Ermittlungen, über den Tod des Jungen, hatte ihn vor ein paar Tagen aufmerksam gemacht. Vielleicht konnte man daraus eine Story stricken.
Und nun tat Dennis etwas, was für sein Alter höchst ungewöhnlich war. Es zeigte zum ersten Mal, dass eine Veränderung in ihm vorgegangen war.
Er schaute zu Susi, dann machte er sich von Mamas Hand los, nahm Susi bei der Hand und stapfte mit ihr zu dem Reporter.
Sie blieben zwei Schritte vor ihm stehen. „Was machst du da“, fragte er. Die Antwort befriedigte ihn nicht und deshalb bohrte Dennis weiter. „Hast du Patrick gekannt?“ Der Reporter schwieg. Also wiederholte Dennis seine Frage etwas lauter. Vielleicht hatte er Dennis nicht verstanden. Dennis kannte das von den Erwachsenen.
„Hast du Patrick gekannt“, bohrte er.
Einige der Eltern hatten sich umgedreht. Einer der Väter machte Anstalten, sich in Bewegung zu setzen. Die Sache konnte einen unangenehmen Verlauf nehmen. Der Reporter hatte schon einige gute Bilder im Kasten. Vielleicht war es Zeit zu gehen.
Susi war direkter. „Wir brauchen dich hier nicht“, sagte sie bestimmt, und fügte hinzu: „Hau ab.“
„Darf ich von euch noch ein Bild machen“, fragte der Reporter, um des Fragens willen. Er hätte das Bild ohnehin gemacht.
Aber Dennis antwortete schon: „Ist schon gut“ und er schloss: „Und dann hau ab. Du störst.“ All das aus den Mündern von zwei dreijährigen Knirpsen belustigte den Fotografen. Er machte zwei Schritte zurück, ging in die Hocke, die Kamera machte klick klick klick klick. Er grinste abschließend, drehte sich um und ging davon. Das würde eine gute Geschichte werden.
Inzwischen war Susis Vater herangekommen. Er nahm die beiden Knirpse an der Schulter, drehte sie um und sagte. „Kommt. Wir warten.“ Und er fügte noch hinzu: „Gut gemacht.“
Nachdem Patricks Sarg in die Erde versenkt wurde, versammelten sich die Kinder um die Öffnung, und ließen ihre Bilder auf den Sarg hinunter flattern. Der Pfarrer erzählte davon, dass Patrick nun in den Himmel fliegt und auf alle Kinder herabsieht. Das gehörte zum Ritus. Georg und Carola, die ebenfalls zur Kindergruppe gehörten, schauten verstohlen nach oben, aber weit oben zog nur ein Flugzeug seinen Kondensstreifen in den blauen Himmel.
Die schönste Abschiedsrede war kurz. Dennis Mama stand vor dem offenen Grab. „Hier auf dem Friedhof sind auch die Gebrüder Grimm beerdigt“, sagte sie. „Du warst noch so klein. Wir haben nie die Gelegenheit bekommen, dir eine Gutenachtgeschichte vorzulesen“. Es klang fast wie eine Entschuldigung. „Wenn es einen Gott gibt, dann wünsche ich, dass die Gebrüder Grimm im Himmel das nachholen, was wir nicht für dich haben tun können.“ Und dann begann sie den Anfang einer Geschichte zu erzählen. Leise und mit brüchiger Stimme. „Es war einmal ein kleiner Junge…“, fing sie an…
Sie schloss ihre Erzählung mit den Worten: „Jetzt schlafe und träume etwas schönes.“
Niemand hatte bemerkt, dass sich der Reporter noch einmal herangeschlichen hatte. Mit dem Teleobjektiv hatte er auf den Film gebannt, wie die Bilder der Kinder in das offene Grab flatterten, und er hatte ein paar verweinte Gesichter „geschossen“.
Der Redakteur der Tageszeitung war vorsichtig. Es hatte keine Genehmigung für die Bilder gegeben. Die Trauergruppe war nicht prominent, so dass man sich als Zeitung mit dem Argument des öffentlichen Interesses darüber hinwegsetzen konnte. Aber die Geschichte war gut. Das Bild der zwei Knirpse auf dem Friedhof, die Hand in Hand mit herausfordernden Gesichtern und kecken Augen vor der Trauergruppe standen war preisverdächtig. So etwas brauchen die Leser. Also wurde im Lokalteil das Bild der beiden Knirpse, und ein kurzer Text über die Beerdigung abgedruckt. So ärgerlich solch eine Verletzung der Privatsphäre ist, der Artikel hatte auch etwas Gutes.
Alle Verdächtigungen gegen die Ärzte oder die Eltern hätten sich als völlig grundlos erwiesen, stand da. Das Verfahren sei eingestellt worden. Damit waren Dennis Eltern zumindest öffentlich als unschuldig am Tod von Patrick beschrieben worden. Das Bild der beiden mutigen Knirpse verursachte viel schmunzeln bei den Lesern. Das Bild machte die Runde. Das war die berühmte „Berliner Schnauze“.
Einige andere Reporter versuchten sich an die Geschichte dran zu hängen, aber Dennis Eltern und auch die Eltern der Kindergruppe waren eisern. Jetzt ist Schluss.
Patricks Beerdigung war zugleich die letzte gemeinsame Handlung der ganzen Gruppe. Das Kindergartenalter war erreicht, die Gruppe siedelte fast komplett in den nahe gelegenen Kindergarten um. Nur Bernd und Edgar gingen nicht mit. Edgars Eltern fanden einen neuen Job in Frankfurt. Bernds Mutter bekam Nachwuchs und beschloss bis zur Einschulung ihrer Kinder zu Hause zu bleiben.
7.
Man hätte denken können, dass sich das Leben von Dennis Familie in den nächsten Tagen und Wochen wieder völlig normalisiert. Dass Mama ihre Halbtagsarbeit sofort wieder aufnimmt, und Papa mit seinen Kollegen wieder in die Tunnel fährt, wie immer. Dass Dennis jeden Tag in den Kindergarten geht. Aber der Tod eines Kindes ist ein einschneidendes und nachhaltiges Erlebnis. Nicht alle Menschen verarbeiten Schicksalsschläge gleich.
Mama war tief geschockt. Der Verlust des eigenen Kindes ist für eine Mutter immer tragisch. Nur wenige Menschen sind so gestört, dass sie das kalt lässt. Es war auch der Verdacht der Staatsanwaltschaft, der sie tief gekränkt hatte. Irgendwo wusste sie, dass das nur eine Formsache war, dass die Staatsanwaltschaft das tun musste. Aber sie war dennoch verletzt. Außerdem machte sie sich selbst Vorwürfe. Hatte sie erste Anzeichen nicht ernst genommen? Was hatte sie falsch gemacht? Hätte sie die Waschzettel der Medikamente besser lesen müssen? Warum hatte Sie Patrick damals nicht länger in der Klinik gelassen und warum hatte sie nicht auf weiteren Untersuchungen bestanden?
Schließlich drückte Sie auch der Verlust. Sie hatte das Kind 9 Monte lang ausgetragen. Das Kind war geplant gewesen. Sie hatte sich darauf gefreut. Sie hatte Patrick an ihrer Brust genährt, ihn gewickelt und sein Lachen genossen. Sie war da, wenn Patrick nachts aufwachte. Sie hatte ihm den blauen Himmel, die Sonne und die zwitschernden Vögel im Park gezeigt. Es blieb eine Leere zurück. Natürlich hatte sie noch Dennis. Aber Patrick fehlte ihr.
Sie kümmerte sich zunächst darum, all die Formalitäten abzuwickeln, die mit dem Tod eines Familienangehörigen einhergehen. Es gab Behördengänge. Das Kinderzimmer blieb erst mal, wie es war. Sie wollte diese Erinnerung behalten.
Außerdem war der Umzug der Kindergruppe in den Kindergarten zu begleiten. Die angemietete Wohnung wurde aufgegeben und ausgeräumt. Überflüssiges wurde zum Sperrmüll gestellt. Die Leiterin der Krabbelgruppe wurde entlassen.
Das Verhältnis zu ihrem Mann war anders. Wenn sie im Bett lagen, dann blieben sie oft eng umschlungen bis zum nächsten Morgen. Der gemeinsame Schmerz wütete. Aber es gab auch Momente, da lag jeder auf seiner Seite des Bettes. Allein mit seinen Gedanken. Ein paar Mal hatte Dennis Papa auf der Wohnzimmercouch übernachtet.
Nach drei Wochen begann Mama ihre Teilzeitarbeit in dem Büro wieder aufzunehmen. Es war ein kleines Büro. Sie half dort bei der Buchführung. Sie wurde nach ihrer längeren Abwesenheit schon dringend erwartet.
Dennis Papa blieb nach der Beerdigung noch einen Tag zu Hause, dann ging er wieder zur Arbeit. Er musste „raus“. Er stürzte sich in die Arbeit. Aber bei seiner Arbeit war er nicht immer konzentriert. Seine Kollegen nahmen anfangs Rücksicht. Aber die Arbeit erforderte hohe Aufmerksamkeit.
Es ging schließlich um die Sicherheit der U-Bahn Passagiere und um hohe Geldbeträge. Dennis Papa nahm sich zusammen. Er wollte seinen Job nicht verlieren.
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