Die wilden Zeiten der Théra P.. Hans-Peter Vogt
Hilfe wurde in eilig aufgebauten Zelten garantiert, die Théras Mutter Alanque zusammen mit einem Team aus Ärzten und Sanitätern aus Deutschland einfliegen ließ.
Aus dem Ausland trafen bald weitere Hilfsgüter und Spezialisten ein. Kleidung und Schuhe, Zelte, Decken, Suppenküchen, Wasseraufbereitungsanlagen, Medikamente, Stromgeneratoren, Säcke mit Mehl, Bohnen und Reis, Sanitäter, Ingenieure, Katasthrophenhelfer und Ärzte.
Die Baukids hatten viel zu tun. Zusammen mit dem Militär waren sie bei der gesamten Hilfe federführend. Auch das war nur möglich, weil sich der Ministerpräsident für diese Gruppe und den Wiederaufbau einsetzte. Er besprach sich mit seinen militärischen Beratern. Der Großteil des Wiederaufbaus würde zwar durch Pioniereinheiten, Baufirmen und professionelle zivile Gruppen erfolgen, die dem Kathastrophenschutz unter Théras Vater Dennis unterstellt wurden, aber die Hilfe der Baukids war so etwas wie die Seele des Wiederaufbaus.
Die Mithilfe der betroffenen Bevölkerung war mindestens genauso wichtig. „Wir wollen hier kein Gefühl von Hoffnungslosigkeit“, verkündete der Ministerpräsident über den Rundfunk. „Wir brauchen jeden, der zwei Arme und zwei Beine hat, um zu helfen“. Der Ministerpräsident war ein gewiefter Taktiker. Er würde gewinnen, wenn er sich als populärer Präsident des Volkes bewies und eine Vorbildfunktion einnahm. Er traf mit seiner Beschwörung mitten in die Volksseele. Er fand Unterstützung bei der Landeskirche. In Cusco waren auch alle Kirchen und das Kloster zerstört worden, wie schon in den Jahren 1650 und 1950 zuvor. Diesmal war aber alles anders, denn Théras Vater organisierte mit Billigung des Präsidenten die Hilfe mit Weitblick und Zivilcourage.
In der Schule der Kids gehörten Ausdruck und Sprachgewandtheit zum Unterricht. Man musste mit Erwachsenen verhandeln, sie um Mithilfe bitten, oder sie freundlich überreden. Es gab viele soziale Projekte, wie die Versorgung von Kranken und die Betreuung von Kindern, die bei dem Beben ihre Eltern verloren hatten.
Viele der Indiomädchen aus Théras Viertel hatten sich dieser Gruppe spontan angeschlossen. Sie gingen in die zerstörten Krankenhäuser und sie organisierten Kinderbetreuung unter freiem Himmel. Sie gingen zu überlebenden Indios und weißen Schülern, brachten sie dazu, eigene soziale Gruppen zu bilden und hielten die Kommunikationsverbindungen aufrecht.
Man brauchte für diese Aufgaben in Cusco viel neues Wissen. Die Lehrer lernten in dieser Zeit mindestens genauso viel, wie die Schüler. Es war eine gewaltige Zweckgemeinschaft.
Théras Onkel, der Ministerpräsident des Landes, hatte in einer öffentlichen Ansprache an die Solidargemeinschaft aller Peruaner appelliert. Er hatte um jede erdenkliche Hilfe gebeten. „Manchmal müssen wir die bürokratischen Hürden überwinden, wenn schnelle Hilfe geboten ist“, hatte der Ministerpräsident gefordert. Das war natürlich auch eine indirekte Aufforderung an alle Abzocker, sich da jetzt einzumischen (auch wenn der Ministerpräsident das so nicht wollte), aber Dennis war sehr rigide, um unberechtigte Ansprüche abzuwehren, und die Schar der Krisengewinnler möglichst klein zu halten. Ganz war der organisierte Betrug in dieser Situation allerdings nicht zu verhindern, zumindest nicht in Cusco.
Während Théras Vater Dennis und viele Helfer die Hilfe in Cusco mit Absicherung durch das Militär organisierten, hatte Théras Mutter Alanque die Aufgabe übernommen, den Wiederaufbau in Théluan zu überwachen. Als Leiterin der Ausgrabung und als Direktoriumsmitglied der Stiftung besaß sie die nötige Position, um sich Gehör zu verschaffen. Dennis schlug sie als stellvertretende Leiterin des Katastophenschutzes vor. Alanque hatte längst einen guten Draht zum Ministerpräsidenten des Landes, und der hatte bestimmt: „Sie organisieren das jetzt. Ich weiß, Sie können das. Wenn es Probleme gibt, dann rufen Sie mich an. Auch die Pioniere und der zuständige Oberst in Ihrer Stadt werden Ihnen unterstellt. Sie haben die zivile Leitung für den Wiederaufbau in Théluan und die Versorgung der Menschen mit Trinkwasser und Nahrung. Die Stadt ist unser wichtigstes Aushängeschild für die Weltöffentlichkeit. Machen Sie was aus der Situation.“
Der Oberst der ursprünglich zum Schutz der Ausgrabung bestellten Brigade arbeitete seit Jahren vertrauensvoll mit Théras Mutter zusammen. Alanque bildete aus ihren indianischen Arbeitern zwei Gruppen. Eine musste die Schäden in den freigelegten Arealen der historischen Ausgrabung begutachten und beheben, die andere wurde eingesetzt, um in der Stadt mit anzupacken.
Schnell hatten die Zeitungen und das Fernsehen des Landes dieses Théma aufgegriffen und sie berichteten mit bewegenden Bildern über diese tatkräftige Jugendgruppe aus Buben und Mädchen, die Zerstörungen und den Wiederaufbau. Aus New York kamen etliche Vertreter der UNESCO angereist, um sich die Zerstörungen am Weltkulturerbe in Cusco und Théluan anzusehen. Sie waren so beeindruckt von der Arbeit der „Grupo Architectura del Kids“, dass sie für den sachgerechten Wiederaufbau der Weltkulturstätten sofort eine Summe von zwei Millionen Dollar auftrieben, obwohl die Kassen ziemlich leer waren.
Viele Architektur- und Ingenieurstudenten schlossen sich Pesas und Alanques Gruppe an. Die freiwillige Arbeit wurde ihnen in ihrem Studium als Praktikum anerkannt. Lehrerstudenten, Schwesternschülerinnen und andere konnten ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren, das ihrer Ausbildung gutgeschrieben wurde und sich in den Zeugnissen positiv niederschlagen würde. Die schwere Winterarbeit würde sogar doppelt honoriert werden. Der Ministerpräsident hatte sich eigenhändig dafür eingesetzt.
Die „Grupo Architectura del Kids“ war schon lange keine ethnische Gruppe von Indios mehr. Viele weiße Jungen und Mädchen waren jetzt Teil dieser Bewegung für den nationalen Wiederaufbau Südost-Perus, wie das in den Zeitungen genannt wurde.
Über den Winter würden viele Arbeiten klimabedingt weitgehend eingestellt werden müssen. Dann begann die wirklich harte Arbeit um das langfristige Überleben der obdachlos gewordenen Menschen. Im Frühjahr würde Pesas Organisation diese erfolgreiche Projektarbeit dann fortsetzen.
Auch in der kleinen Stadt Théluan würde die Schule in Zukunft nicht mehr das sein, was sie einmal war. Diese Erfahrungen der Schüler waren Gold wert, und die Lehrer nahmen sich vor, die gemeinsamen Erfahrungen über den Winter in einem Buch zusammenzufassen, um das „Lernen im Projekt“ - wie sie das nannten, als Idee für andere Schulen anzuregen.
Viele obdachlose Kinder aus Cusco wurden über den Winter von Familien in Théluan aufgenommen. Die Siedlung der Indios wuchs schlagartig um 800 Kinder und Jugendliche an. Jede Familie nahm mindestes ein Kind auf, damit es ein Dach über dem Kopf hatte. Eine wahre Herausforderung für Eltern, Lehrer und Schüler.
2.
All das hatte auch einige Unruhe im Land ausgelöst. Die Indios fanden plötzlich Gehör. Der Ministerpräsident setzte sich für sie ein. Man sprach über die soziale Lage. Die Fernsehsender verbreiteten immer wieder eine indianerfreundliche Stimmung, ja Bewunderung. Das war nicht normal.
Die Weißen beherrschten in Peru das politische und wirtschaftliche Geschehen. Nicht alle spanischstämmigen Weißen waren mit dieser Entwicklung einverstanden. Es gab wichtige Männer und Frauen, für die Indios immer noch als „unwertes Leben“ galten, oder jedenfalls als Volk, das der herrschenden weißen Kaste an Intelligenz und Machtstreben weit unterlegen war. Indios konnte man benutzen. Sie leisteten Garten- und Hausarbeit, man konnte sie in die Bergwerke schicken und körperlich gefährliche Arbeiten verrichten lassen, und man konnte ihnen den Job jederzeit wieder wegnehmen. Die Indios machten das Geldverdienen einfacher, solange sie keine politische Stimme und keine Interessenvertretung hatten. Es hatte in der Vergangenheit sogar Zwangssterilisationen gegeben, um diese Bevölkerungsgruppe zu dezimieren.
Man wollte Schürfrechte und Land, aber man wollte den Indios nichts für die Nutzung ihres Landes zahlen, für das es nicht einmal eingetragene Rechte gab, sondern nur einen historischen Anspruch, der nicht einmal in den Grundbüchern stand. Dann war jedoch diese historische Stadt entdeckt worden, und die Großgrundbesitzer hatten nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sich daran privat zu bereichern, weil die Stiftung von Théras Eltern dort alles kontrollierte und für eine vertragliche und gerechte Verteilung der Funde zwischen den Staaten Peru, Bolivien und der beteiligten Stiftung aus Berlin sorgte.
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