Digitalisierung verstehen. Hannes Androsch
der Entdeckung des Feuers war die neolithische Revolution mit der Entstehung von Landwirtschaft und Viehzucht der wahrscheinlich größte Einschnitt in der Menschheitsgeschichte. Nachdem der Mensch sesshaft geworden war, haben sich Städte und Schriftkulturen, komplexe Sozialsysteme, eine arbeitsteilige Wirtschaft und ausgefeilte Regularien für das Zusammenleben entwickelt. Die Sesshaftigkeit des Menschen ist die Quelle von Schrift, Staat und Staatsbildung. Mit der Zeit wurden Basistechnologien wie Metallverarbeitung, Mühlen oder Transport- sowie Logistiksysteme entwickelt. Die – im wahrsten Sinn des Wortes – wichtigste Antriebskraft dafür war über lange Zeit die Muskelkraft.
Dabei blieb es auch mehrere Jahrtausende. Erst die industrielle Revolution, beginnend in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, läutete mit der Erfindung von Dampfmaschine und Eisenbahn den Übergang von der Agrar- in die Industriegesellschaft ein. Durch das Nutzbarmachen von fossilen Energieträgern, anfangs vor allem Kohle, wurde die Muskelkraft durch Maschinenkraft zuerst ergänzt und bald vielfach ersetzt.
Der Einsatz von Maschinen brachte viele Entwicklungen ins Rollen, sowohl technologischer als auch ökonomischer und sozialer Art. Ab dem späten 19. Jahrhundert setzten sich sukzessive Elektrizität und der Verbrennungsmotor durch. Der Umstieg von der Kutsche auf das Auto beeinflusste die Mobilität und die Mechanisierung in der Landwirtschaft. Das Arbeiten am Fließband in Fabrikshallen sowie ergänzende Methoden der Automatisierung revolutionierten schließlich die Güterproduktion. Ein weiterer Entwicklungsschub in der Automatisierung stellte sich mit der Entwicklung des Computers und dem Einsatz von Elektronik in den 1950er-Jahren ein.
Nun erleben wir erneut einen einschneidenden Wandel: den Umbruch von der industriellen zur digitalen Revolution. Auf Basis von Internet, Big Data, Algorithmen und deren Vernetzung zum Internet der Dinge mit immer leistungsfähigeren Sensoren, der künstlichen Intelligenz und maschinellem Lernen geht der Trend in Richtung cyber-physikalische Systeme. Ergänzt werden diese Entwicklungen durch Fortschritte in den Bereichen neue Materialien, Nanotechnologie, Quantencomputer und Gensequenzierung sowie deren Verknüpfung. Was früher die Maschinenkraft für die Muskelkraft war, ist jetzt die künstliche Intelligenz für die Geisteskraft: eine Erleichterung und Ergänzung der menschlichen Arbeit.
Diese Entwicklung stellt uns vor komplett neue Herausforderungen und Chancen, da wir mit der Digitalisierung völliges Neuland betreten. Während alle vorangegangenen Revolutionen auf den physikalischen Gesetzen der Mechanik, u. a. der Schwerkraft, basierten – und auch Elektrizität, Elektromagnetismus sowie Wärme (Thermodynamik) eine wichtige Rolle spielten –, kommt dieses Mal eine Ebene mit gänzlich anderen Gesetzmäßigkeiten hinzu: die Überwindung von Entfernungen ohne Kraftanstrengung und in Lichtgeschwindigkeit.
Virtuelle Verbindungen ermöglichen es, Wirkungen nahezu in Echtzeit am anderen Ende der Welt auszulösen. Davon profitiert die Telemedizin ebenso wie die Industrie 4.0. In Sekundenschnelle ein Problem eines Roboters in einem schwedischen Labor durch einen Techniker in Übersee oder Asien zu erkennen und zu beheben ist nicht mehr Science-Fiction, sondern wird State of the Art in einer Industriegesellschaft 5.0 sein. Dabei geht es um eine allumfassende Digitalisierung, in deren heikelster Phase wir uns derzeit befinden. Die Weichen in der Staatsführung, der Verwaltung, in der Wirtschaft sowie für unser soziales Zusammenleben werden jetzt gestellt. Wie gut es uns gelingen wird, die verkrusteten Strukturen unserer Gesellschaft aufzubrechen, wird darüber entscheiden, wie wir uns in der globalen, digitalen Welt behaupten können.
Das noch niemals Dagewesene ist nicht allein in der Technik zu finden, sondern auch im sozialen Umfeld. Das neue Zeitalter wird vieles auf den Kopf stellen. So lassen sich für eine digitalisierte Welt keine analogen Schlüsse aus Erfahrungswerten ziehen. Wir können heute nicht unsere Eltern oder Großeltern um deren Einschätzungen fragen, weil es die virtuelle Komponente schlichtweg noch nie gegeben hat. Wir werden also gemeinsam experimentieren müssen und das Erlernen und Trainieren der neuen Kulturtechnik wird niemandem – egal welchen Alters – erspart bleiben.
Eine digitale Kluft zwischen Jung und Alt ist evident, dennoch verläuft die digitale Spaltung unserer Gesellschaft innerhalb der älteren Generation selbst. Zahlreiche Umfragen machen sichtbar, wie schwer Senioren mit der neuen Technologie zurechtkommen. Digitalisierung ist für Menschen im fortgeschrittenen Alter jedoch ebenso bedeutend wie für die Gruppe der nachfolgenden Generationen. Es geht dabei um den Zugang zu Informationen, die aktive Teilhabe am sozialen Leben, wie z. B. dem digitalen Bankverkehr, dem Telebanking oder dem digitalen Impfpass am Smartphone sowie der medizinischen und pflegerischen Versorgung. In letzteren Bereichen wird Digitalisierung geradezu virulent.
Digitale Kompetenz im Alter hat auch wesentlich mit der Zugehörigkeit zu höheren sozialen Schichten, höherem Bildungsstand sowie den materiellen Ressourcen eines Menschen zu tun. Allen Menschen Zugang zu den digitalen Möglichkeiten zu verschaffen und niemanden in der analogen Welt zurückzulassen, ist Verpflichtung unserer Gesellschaft.
Wer allerdings bewusst in der analogen Welt verharrt, wird früher oder später mit Sicherheit abgehängt werden. Die digitale Welt dreht sich immer schneller. Seien es die Offliner, alle Altersklassen betreffend, oder Unternehmen, die in den kommenden Jahren die Überfuhr in die Plattformgesellschaft verschlafen. Wenn sich die Kunden in digitaler Hinsicht schneller als die Betriebe entwickeln, weil in der virtuellen Welt binnen kürzester Zeit Bedürfnisse entstehen, die es zuvor nicht gab, dann werden auch die treuesten Stammkunden per Mausklick bald über alle Berge sein.
GAFAM, das Akronym für die US-amerikanischen Technologie-Unternehmen Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, auch Big Five genannt, befinden sich infolge des rasanten technischen Fortschritts in einem schwindelerregenden Wachstumsprozess und zählen weltweit – gemessen an ihrer Marktkapitalisierung – seit 2010 zu den zehn größten Unternehmen. Die Treiber dieses Wachstums, die technologischen Erfindungen, finden in immer kürzeren Zeitabständen statt. Waren es in der neolithischen Revolution mit dem Sesshaftwerden der Menschen und dem damit einhergehenden Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht noch Jahrtausende, die zwischen den Erfindungen verstrichen, waren es in der jüngeren Geschichte ab der industriellen Revolution nur mehr knappe Jahrhunderte. Innovationen wie das Telefon oder das Automobil brauchten dann noch Jahrzehnte, um sich durchzusetzen, was sich im digitalen Zeitalter ab 1995 auf wenige Jahre reduziert hat. Facebook wurde 2004 gegründet, YouTube 2005, Twitter 2006, WhatsApp 2009 und Instagram 2010. Und auf das erste Handy mit erweiterten Multimediamöglichkeiten, das vom finnischen Hersteller Nokia, als „Nokia 9000 Communicator“, 1996 auf den Markt kam, folgte 2007 das erste iPhone 2G von Apple, das sich innerhalb kürzester Zeit am Markt behaupten konnte.
Für immer weniger Geld steigt die Rechenleistung in den immer kleiner werdenden Geräten unaufhörlich an. In Österreich besitzen 83 Prozent1 der Menschen ab 15 Jahren ein Smartphone und mehr als 18 Millionen SIM-Karten sind bereits im Umlauf. Diese meist daumennagelgroßen Chipkarten finden sich in den smarten Geräten im Internet of Things (IoT), wie man sie auch in Überwachungskameras, Bohranlagen oder Beleuchtungen verwendet. Auch für die Anzeige von freien Parkplätzen werden die kleinen Prozessoren mit Speicher eingesetzt.
Diese neue Revolution, deren Zeugen wir gegenwärtig sind, bringt einen tiefgreifenden Wandel unserer Werte-, Handels-, Produktions- und Wirtschaftssysteme sowie Gesellschaftsstrukturen mit sich. Sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche werden davon berührt und verändert – die Landwirtschaft und die Güterproduktion genauso wie der Handel, das Bildungswesen, die Wissenschaft oder die Büroarbeit.
Dass es sich hierbei erst um den Anfang eines nachhaltigen Strukturwandels handelt, dem noch viele Veränderungen folgen werden, ist einleuchtend. Unter dem Schlagwort „precision medicine“ wird z. B. an neuartigen Behandlungsmethoden geforscht, um Krankheiten individuell zu bekämpfen und für jeden Patienten das effektivste Heilverfahren zu finden. Auch unser Geld- und Bankwesen wird bald ein völlig anderes sein, vom Bildungswesen gar nicht zu sprechen. Die Technologie wird radikale Innovationen in der Wirtschaft hervorbringen und ganze Industriezweige