Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer
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Das gesamte Unionsrecht ist seit Lissabon supranational (s. Rn 1159), allerdings mit einer Ausnahme. Diese betrifft die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die insoweit eine Sonderstellung bekommt, als sie einem speziellen intergouvernementalen Verfahren mit grundsätzlicher Einstimmigkeit bei Abstimmungen unterliegt (Titel V EUV).
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Die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) wurde nicht in die EU einbezogen, sondern besteht als eigenständige internationale Organisation mit Völkerrechtssubjektivität weiter. Der EAGV wurde – soweit notwendig – dem EUV und dem AEUV angepasst (Protokoll Nr 2 zum Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 2016, C 202, S. 198 ff [konsolidierte Fassung]). Durch den Fortbestand der EAG bedingt gibt es auch weiterhin – aber nur für die EAG – den Begriff des Gemeinschaftsrechts.
§ 1 Begriffsbestimmung › B. Europarecht › II. Der Begriff des Europarechts im GG und in den Länderverfassungen
II. Der Begriff des Europarechts im GG und in den Länderverfassungen
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Das GG verwendet den Begriff des Europarechts nicht. Hingegen kommt der Begriff der Europäischen Union in Art. 16, Art. 23, Art. 45, Art. 50, Art. 52, Art. 88, Art. 104a und Art. 109a GG vor. Außerdem findet sich in Art. 16a, Art. 28, Art. 87d, Art. 106, Art. 108 und Art. 109 GG nach wie vor der Begriff der Europäischen Gemeinschaft(en). Bezüglich Art. 28 GG handelt es sich der Sache nach um einen Verweis auf Art. 20 Abs. 1 AEUV.
Die Art. 20 ff AEUV behandeln die sog. Unionsbürgerschaft. Sie gibt den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der EU eine Reihe von Rechten, ohne die nationale Staatsangehörigkeit zu berühren. Dazu zählen ua das Aufenthaltsrecht (Art. 21 Abs. 1 AEUV); das aktive und passive Kommunalwahlrecht, das Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG verfassungsrechtlich gewährleistet (Art. 22 Abs. 1 AEUV); das aktive und passive Wahlrecht zum Europäischen Parlament im jeweiligen Wohnsitzstaat (Art. 22 Abs. 2 AEUV); der Anspruch auf diplomatischen und konsularischen Schutz in fremden Staaten durch jeden Mitgliedstaat der EU (Art. 23 Abs. 1 AEUV); das Recht auf eine Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 24 Abs. 1 AEUV); das Petitionsrecht (Art. 24 Abs. 2 AEUV, Art. 227 AEUV); das Recht, sich an den Bürgerbeauftragten des Europäischen Parlaments zu wenden (Art. 24 Abs. 3 AEUV, Art. 228 AEUV) sowie das Recht auf die eigene Sprache (Art. 24 Abs. 4 AEUV).
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Auch in den Länderverfassungen wird der Begriff des Europarechts nicht verwendet. Der Begriff der Europäischen Gemeinschaft(en) findet sich hingegen vereinzelt in Länderverfassungen, so in Art. 72 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Baden-Württemberg, Art. 65 Abs. 1 Satz 4 der Verfassung von Hamburg, Art. 39 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern, Art. 25 Abs. 1 Satz 2, Art. 55 Abs. 3 Satz 1 der Verfassung von Niedersachsen, Art. 60 Abs. 2 Satz 1 und Art. 64 Satz 2 der Verfassung des Saarlandes sowie in Art. 67 Abs. 4 der Verfassung von Thüringen. Auch hier handelt es sich der Sache nach jeweils um einen Verweis auf die EU.
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Der Begriff der Europäischen Union findet sich in zahlreichen Länderverfassungen, so in Art. 34a Abs. 1 und Abs. 2 der Verfassung von Baden-Württemberg, Art. 70 Abs. 4 Satz 1 der Verfassung von Bayern, Art. 94 Satz 2 der Verfassung von Brandenburg, Art. 50 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, Art. 70 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Berlin, Art. 79 Abs. 2, Art. 131c Satz 2 der Verfassung von Bremen, Art. 31 Abs. 1 Nr 5 der Verfassung von Hamburg, Art. 35a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1, Art. 52 Abs. 4 der Verfassung von Mecklenburg-Vorpommern, Art. 40 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 der Verfassung von Nordrhein-Westfalen, Art. 19a, Art. 50 Abs. 1 Satz 2, Art. 74a Satz 1 und Satz 2, Art. 89b Abs. 1 Nr 7 der Verfassung von Rheinland-Pfalz, Art. 76a Abs. 1 und Abs. 2 der Verfassung des Saarlandes, Art. 62 Abs. 1 Satz 2 der Verfassung von Sachsen-Anhalt, Art. 28 Abs. 1 Satz 2 und Art. 67 Abs. 3 der Verfassung von Schleswig Holstein.
§ 1 Begriffsbestimmung › B. Europarecht › III. Literatur
III. Literatur
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Calliess, S. 42 ff; Herdegen, S. 1 ff; Mosler, Begriff und Gegenstand des Europarechts, in: ZaöRV 1968, S. 481 ff; Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 3. Aufl., Berlin 2015; Schorkopf, S. 9 ff; Streinz, S. 1 ff.
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht
Inhaltsverzeichnis
A. Völkerrecht und nationales Recht
B. Europarecht und nationales Recht
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Die Frage des Verhältnisses von Völkerrecht und Europarecht zum nationalen Recht ist im Grunde genommen die Frage danach, welches Recht im Konfliktfall vorgeht. Das Völkerrecht gibt darauf keine klare Antwort, weshalb sich die Diskussion über sein Verhältnis zum nationalen Recht auf die theoretische Ebene verlagert hat. Welchem theoretischen Modell die Staaten folgen wollen, bleibt ihnen überlassen. In diesem Sinne hat auch das BVerfG entschieden, dass
„es das Völkerrecht den Staaten [überlässt], die innerstaatlichen Rechtsfolgen einer Kollision zwischen einem völkerrechtlichen Vertrag und einem Gesetz nach den entsprechenden Rang- und Kollisionsregeln des nationalen Rechts zu regeln und dem nationalen Recht den Vorrang einzuräumen“ (BVerfGE 141, S. 1 ff, 25).
Demgegenüber gehen der EuGH und die hL beim Europarecht im engeren Sinn (Unionsrecht) davon aus, dass die Rangfrage gegenüber dem nationalen Recht im Unionsrecht selbst geregelt sei, sodass sich die Diskussion hier auf die positivrechtliche Ebene konzentriert.
§ 2 Völkerrecht, Europarecht und nationales Recht › A. Völkerrecht und nationales Recht
A. Völkerrecht und nationales Recht
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Fall 2:
Die Bundesrepublik schließt ordnungsgemäß einen völkerrechtlichen Vertrag mit dem Staat A. Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag wird im Rahmen eines abstrakten Normenkontrollverfahrens vor dem BVerfG angefochten. Das BVerfG erklärt das Gesetz für nichtig. Als der Staat A einige Zeit später eine Verletzung des Vertrages durch die Bundesrepublik geltend macht, antwortet der Bundesaußenminister, dass das BVerfG das Zustimmungsgesetz wegen Nichtigkeit aufgehoben habe und die Bundesorgane daher den Vertrag nicht mehr einhalten durften. Der Staat A entgegnet, dass ihm das gleichgültig sei. Er habe den Vertrag schließlich mit der Bundesrepublik und nicht mit dem BVerfG abgeschlossen. Der Vertrag sei ordnungsgemäß zu Stande gekommen und daher verbindlich. Wer hat Recht?