Staatsrecht III. Hans-Georg Dederer
unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn bei solchen Übertragungen nicht überschaubare haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können. Auf eine genaue Festlegung einer Höchstgrenze geht das BVerfG aber nicht ein, sondern spricht vielmehr von einer „evidenten Überschreitung von äußersten Grenzen“ (BVerfGE 129, S. 124 ff, 182).
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Jedenfalls müsse jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im internationalen oder unionalen Bereich vom Bundestag im Einzelnen bewilligt werden (BVerfGE 129, S. 124 ff, 180). Diese Bewilligung dürfe auch nicht generell vom Plenum auf ein Bundestagssondergremium verlagert werden, da damit die Beteiligungsrechte gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der einzelnen Abgeordneten eingeschränkt würden (BVerfGE 130, S. 318 ff, 356 f). Zwar seien Eingriffe in die Abgeordnetenrechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht generell ausgeschlossen und könnten zB aus Gründen besonderer Eilbedürftigkeit oder Vertraulichkeit gerechtfertigt sein. Gründe besonderer Eilbedürftigkeit könnten im Zusammenhang mit Notmaßnahmen der Finanzstabilisierung im Euro-Raum aber allenfalls die Übertragung von Befugnissen des Bundestages auf den 41 Mitglieder umfassenden Haushaltsausschuss legitimieren (BVerfGE 130, S. 318 ff, 360 f). Den Anforderungen besonderer Vertraulichkeit wiederum wird im Grundsatz bereits mit der Geheimschutzordnung des Bundestages genügt. Lediglich Entscheidungen über ganz bestimmte Notmaßnahmen (konkret der Ankauf von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt) könnten um der Sicherung ihres Erfolgs Willen „absoluter“ Vertraulichkeit unterliegen und dürften daher von einem kleinstmöglichen Sondergremium geplant, beraten und beschlossen werden. Jenes müsse aber gemäß dem Grundsatz der Spiegelbildlichkeit zusammengesetzt sein, also „eine möglichst getreue Abbildung der Stärke der im Plenum vertretenen Fraktionen“ darstellen (BVerfGE 130, S. 318 ff, 361 ff, 365).
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Durch die Budgetverantwortung gerade nicht ausgeschlossen ist dagegen, dass sich die Bundesrepublik einer gewissen, supranational oder international kontrollierten Haushaltsdisziplin unterwirft. Hierzu hat das BVerfG ausgeführt (BVerfGE 135, S. 317 ff, 403):
„Die Verpflichtung des Haushaltsgesetzgebers auf eine bestimmte Haushalts- und Fiskalpolitik ist – ungeachtet des auf prinzipielle rechtliche Reversibilität angelegten Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG – nicht von vornherein demokratiewidrig … Sie kann grundsätzlich auch durch die Übertragung wesentlicher haushaltspolitischer Entscheidungen auf Organe einer supra- oder internationalen Organisation oder die Übernahme entsprechender völkerrechtlicher Verpflichtungen erfolgen … Die Entscheidung, ob und in welchem Umfang dies sinnvoll ist, obliegt in erster Linie dem Gesetzgeber … “
Eine derartige Disziplinierung der Haushalts- und Fiskalpolitik dient dem Schutz zukünftiger Generationen, deren haushaltspolitische Entscheidungsspielräume durch Vermeidung erdrückender Schulden- und Zinslasten offen gehalten werden (BVerfGE 132, S. 195 ff, 245).
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In bemerkenswerter Deutlichkeit hat das BVerfG – ohne Normanknüpfung und ohne dass der Vertrag von Lissabon seinerzeit Anlass dazu gegeben hätte – betont, dass das GG dem Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat und insoweit auch der Fortentwicklung der EU zu einem solchen kategorisch entgegenstehe – es sei denn um den Preis einer neuen Verfassung (vgl Art. 146 GG). Das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes „in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands“ dürfe nicht durch den Eintritt der durch das GG konstituierten Bundesrepublik in einen europäischen Bundesstaat aufgegeben werden (BVerfGE 123, S. 267 ff, 347 f). Vielmehr müsse das Volk zu einem solchen „nationalen Souveränitätsverzicht“ eine „freie Entscheidung … jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes“ treffen (BVerfGE 123, S. 267 ff, 364).
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Wer den europäischen Bundesstaat will, muss also das GG beseitigen. Widerstand (Art. 20 Abs. 4 GG) hiergegen wäre unzulässig, sofern Art. 146 GG die Verfassungsablösung mit dem Ziel der Gründung eines europäischen Bundestaats deckt. Das wäre aber wiederum dann nicht der Fall, wenn die Verfassungsablösung nach Art. 146 GG an die Voraussetzungen des Art. 79 Abs. 3 GG gebunden wäre (s. dazu Calliess, S. 247 ff). Denn Art. 79 Abs. 3 GG garantiert „die souveräne Staatlichkeit Deutschlands“ (BVerfGE 123, S. 267 ff, 343). Sie ist aber gerade der verfassungsrechtliche Grund dafür, dass sich das geltende GG gegen den Beitritt der Bundesrepublik zu einem europäischen Bundestaat sperrt. Die folgende Aussage im Lissabon-Urteil des BVerfG scheint die Beachtlichkeit von Art. 79 Abs. 3 GG im Fall einer Verfassungsablösung nach Art. 146 GG eher nicht anzunehmen, was freilich nur konsequent wäre (BVerfGE 123, S. 267 ff, 364):
„Wenn dagegen die Schwelle zum Bundesstaat und zum nationalen Souveränitätsverzicht überschritten wäre, was in Deutschland eine freie Entscheidung des Volkes jenseits der gegenwärtigen Geltungskraft des Grundgesetzes voraussetzt, müssten demokratische Anforderungen auf einem Niveau eingehalten werden, das den Anforderungen an die demokratische Legitimation eines staatlich organisierten Herrschaftsverbandes vollständig entspräche. Dieses Legitimationsniveau könnte dann nicht mehr von nationalen Verfassungsordnungen vorgeschrieben sein.“
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Hervorzuheben ist, dass Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG nicht auf Art. 79 Abs. 1 GG verweist. Da die verfassungsrechtlich relevanten Rechtsänderungen, die durch eine Übertragung von Hoheitsrechten entstehen, ihren Niederschlag im EUV oder im AEUV finden, besteht kein unmittelbarer Textbezug zum GG, sodass die Änderungen auch nicht im GG niedergeschrieben werden können (s. Rn 400). Dies hat zur Folge, dass nur mithilfe dieser Verträge ein umfassendes Bild über die tatsächliche Kompetenzverteilung im Sinne des GG erzielt wird. Genau genommen ist also jede staatsrechtliche, dabei allein das GG in den Blick nehmende Darstellung der Kompetenzverteilung unvollständig, weil und soweit nicht die auf die Union übertragenen Hoheitsrechte berücksichtigt werden.
Beispiel:
Art. 105 Abs. 1 GG, der inzwischen überholt ist, da nach Unionsrecht der EU die ausschließliche Rechtsetzungskompetenz über die Zölle zusteht (Art. 31 AEUV).
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Integrationsschranken ergeben sich ferner aus der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG. Danach muss die EU „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet (sein) und einen diesem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleiste(n)“. Auf Grund dieser Vorschrift, welche die in der Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 24 Abs. 1 GG entwickelten Integrationsschranken wiedergibt, darf der Bund an der Errichtung der EU und ihrer weiteren Entwicklung nur mitwirken, wenn die in Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG genannten Strukturprinzipien fortgesetzt gewahrt sind. Entspräche die EU nicht mehr diesen Strukturprinzipien, wäre die weitere Mitgliedschaft Deutschlands in einer solchen EU verfassungswidrig. Insofern trifft die deutschen Staatsorgane die verfassungsrechtliche Pflicht, auf die Einhaltung der Strukturprinzipien hinzuwirken und einem Unterschreiten des jeweils gebotenen Mindestmaßes an Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc. entgegenzutreten (zur Integrationsverantwortung Rn 763 ff). Weitergehend kann nach der Rechtsprechung des BVerfG das im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG zunächst verfassungskonforme Integrationsgesetz als solches nachträglich verfassungswidrig werden, wenn das Integrationsprogramm verfassungswidrig vollzogen wird und diese „verfassungswidrige Anwendungspraxis auf das Integrationsgesetz selbst zurückzuführen ist und darin ein strukturbedingtes normatives Regelungsdefizit zum Ausdruck kommt“ (so BVerfGE 149, S. 346 ff, 362 zu Art. 24 Abs. 1 GG).
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